Dunkle Träume. Inka Loreen Minden
Schwanz, riss daran – schon spürte er einen scharfen Schnitt am Steißbein. Das kalte Metall durchtrennte Haut, Sehnen, Muskeln und Nerven. Glühende Pein raste durch seinen Körper. Kyrian brüllte auf, während die anderen lachten. Sie stopften ihm den abgeschnittenen Körperteil in den Mund, wo er noch ein letztes Mal zuckte. Kyrian schmeckte Blut, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Rücken vor dem Eingang der Höhle, den Blick auf den weit entfernten Vulkan gerichtet, der Lava und Asche ausstieß und oftmals den Himmel verfinsterte. Dessen Grollen vernahm er bis hierher, und manchmal fühlte er, wie die Erde bebte. Durch den glutroten Morgenhimmel schien der feuerspuckende Berg mit den Sternen zu verschmelzen. Leider konnte Kyrian den grandiosen Ausblick nicht genießen, da ihm schlagartig bewusst wurde, was sich eben abgespielt hatte. Dort, wo einmal sein Schwanz gewesen war, pochte und brannte es höllisch. Der Schmerz lähmte ihn, ließ ihn kaum atmen.
Grinsend hielt ein Krieger seinen abgeschnittenen Körperteil in der Hand und warf ihn über den Felsvorsprung in die Tiefe.
Hoffentlich machten sie schnell. Er wollte nur noch sterben.
Als er die Klinge an einem seiner Hörner spürte, regte er sich nicht. Es war klein, nicht mehr als ein Stummel, dennoch hochsensibel. Kyrian würde die Schmerzen nicht überleben, wenn sie es abschnitten. Doch er war bereit, seiner Mutter zu folgen.
»Der König kommt!«, rief einer.
Sofort ließen die Soldaten von ihm ab und knieten sich in den Staub, die Häupter gesenkt.
Schwerfällig drehte Kyrian den Kopf und musterte den eingetroffenen Elfen, der sich, die Arme in die Hüften gestemmt, vor ihnen aufbaute. Er war größer als die anderen, trug eine prächtige Rüstung aus Silber und ein Schwert, das in der Morgensonne funkelte, weil es mit unzähligen Diamanten besetzt war. Sein langes weißes Haar flatterte im Bergwind.
Der König! Das Oberhaupt dieser Bastarde. Seine Stiefel berührten beinahe Kyrians Nase, so dicht stand er vor ihm. Würde er es zu Ende bringen? Wenn Kyrian die Kraft hätte, würde er ihn anflehen, schnell zu machen.
»Lasst ihn am Leben!«, befahl dieser stattdessen. »Ich habe euch ausdrücklich befohlen, dass ich die Kinder erst sehen will.«
»Was wollt Ihr mit ihnen, Mylord?«, fragte ein Soldat vorsichtig. »Sie sind Abschaum.«
»Der da«, spie der König aus und drückte Kyrian die Schwertklinge gegen die nackte Brust, »kann uns vielleicht nützlich sein.«
»Wobei, Mylord?«
Kyrians Herz trommelte hart gegen den Brustkorb, als sich der Anführer zu ihm herunterbeugte und zischte: »Im Kampf gegen die Hexen und Magier.«
Kapitel 1 – Kyrian
Kyr riss die Augen auf. Die Laken klebten an seinem schweißnassen Körper, der Puls klopfte hart in den Ohren und hämmerte schmerzhaft in seinem Schädel. Wie so oft, wenn er aus dem immer wiederkehrenden Grauen erwachte, von dem er seit über zwei Jahrzehnten träumte, wusste er für einige Sekunden nicht, wo er sich befand.
Das war nicht gut.
Menschenwelt … Seufzend massierte er sich die Schläfen und blinzelte. Ein Zimmer. Sein Zimmer, sein karg eingerichtetes Apartment im obersten Stockwerk eines gläsernen Hochhauses in London. Dort besaß die Hexe Noir Hadfield eine Detektei für übersinnliche Fälle, die sie vor ein paar Monaten gegründet hatte. Hier lebten auch Vincent, Noirs Partner und Kyrians Klanführer, sowie drei andere ihrer Bruderschaft: Nicolas, Dominic und Akilah. Der Bruderschaft der Ausgestoßenen. Derjenigen, die keiner haben wollte. Weil sie anders waren. Nichts Halbes, nichts Ganzes oder einfach unerwünscht. Daher nannten sich die Hybriden auch Goyles, nicht Gargoyles.
Kyr streckte sich, bis seine Gelenke knackten, und rieb seine Stirn. Diese verdammten Kopfschmerzen hatte er immer nach den Träumen. Reflexartig griff er an sein Steißbein, wo sein Schwanzstummel unangenehm pochte. Er hasste das daumendicke Überbleibsel, das ihn daran erinnerte, wer er war. Außerdem sah es lächerlich aus.
Schwerfällig stand er auf, schnappte sich eine schwarze Cargohose sowie ein T-Shirt und ging ins Badezimmer.
Als er eine halbe Stunde später aus der Wohnung lief, stieß er im Flur beinahe mit Noir zusammen, obwohl sie kaum zu übersehen war. Kyr sprang zur Seite, um sie nicht umzustoßen, und rannte dafür fast in ihren Jagdhund. Papiere, Dokumentenmappen und seine Sonnenbrille flogen zu Boden.
Noir bückte sich. Sie war sehr groß für einen Menschen, so groß wie er, und ihr silberweißes Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Unter ihrem engen Shirt wölbte sich ein Babybauch.
Der graue Hund stellte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf seine Oberschenkel.
»Hey, Räuber«, murmelte Kyr und kraulte das Tier hinter den Schlappohren. Schließlich wollte er vor der Hexe nicht auffallen. Normalerweise gab Kyr nichts auf Streicheleinheiten.
Noir grinste und sammelte die Akten auf, die sie bei ihrem Beinahe-Zusammenstoß fallengelassen hatte. Dabei reichte sie ihm auch seine Sonnenbrille, die seine lichtempfindlichen Augen schützte. »Immer mit der Ruhe, Cowboy. Du hast erst in einer Stunde einen Auftrag, mein Klient hat mich versetzt.«
Gut, er hatte also nicht verschlafen. Kyr schob die Brille in sein Haar und versuchte, nach einem Dokument zu greifen, um so zu tun, als würde er der Hexe beim Aufsammeln helfen. Eigentlich wollte er einen Blick auf den Namen werfen, aber der temperamentvolle Hund ließ ihn nicht in Ruhe. Räuber sabberte ihm auf die saubere Einsatzhose und schleckte über seine Hand. Kyr hatte keine Ahnung, warum der Köter ihn mochte. Er war sehr verspielt und hielt sich gern in seiner Nähe auf. Dummes Vieh, es müsste eigentlich spüren, dass er seinem Frauchen und ihren Kunden an den Kragen wollte, doch so schöpfte die Hexe wenigstens keinen Verdacht.
Die Brauen nach oben gezogen, blickte Noir ihn an. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Hm.« Er vermied es, viele Worte zu wechseln. Außerdem musste er sich ständig zurückhalten, sich nicht zu translozieren, denn er hatte sich an diese Art der Fortbewegung gewöhnt.
Ein weiterer Stich durchzuckte sein Gehirn. Ob die Hexe versuchte, seine Gedanken zu lesen? Sie konnte das, allerdings nur bei Menschen. Mit zwei Fingern rieb er sich über die Schläfen.
»Hast du Kopfweh?« Noir stand auf und balancierte den Stapel Akten in der Hand. Akten, die er zu gern durchsehen wollte.
»Geht schon«, erwiderte er.
»Komm mal mit in mein Büro. Ich geb dir ein Pulver dagegen.«
Hexenmagie – damit wollte er nichts zu tun haben. Dennoch folgte er ihr. Sie brachte ihn dorthin, wo er bereits ewig hineinwollte. Allein.
Die Tür war mittels eines Scanners und Zahlencodes gesichert. Noirs Freund, der Magier Magnus Thorne, hatte die oberste Etage des Hauses in eine Hochsicherheitszone verwandelt. Kein Dämon konnte hier ein Portal erschaffen, und die einzelnen Wohnräume ließen sich nur mit Daumenscan öffnen. Um in Noirs Büro zu kommen, musste man zusätzlich einen Code eingeben.
»Kannst du die mal kurz halten?«
Die Hexe drückte ihm den Stapel in die Hand, dann tippte sie auf das Bedienfeld. Räuber strich um ihre Beine, sodass sie anscheinend vergaß, das Eingabefeld mit ihrem Körper abzuschirmen. Kyr lugte an ihr vorbei. 23 – 5 – 99 – 2. Einen Fingerabdruck hatte er längst nachgebildet, jetzt kannte er auch den Code.
Die Tür ging auf. Räuber bellte ein Mal, wedelte und sah zu Kyrian auf, bevor er sich ins Büro trollte. Noir winkte ihn herein. Verdammt, die Frau vertraute ihm wirklich, wie all ihren Angestellten. Wenn sie wüsste, wer er war, hätte sie ihn längst getötet oder der Magiergilde ausgeliefert. Bisher war er nicht aufgeflogen und so sollte es noch eine Weile bleiben. Seit er vor ein paar Monaten in Vincents Klan gekommen war, hatte er sich unauffällig verhalten, Noirs Aufträge gewissenhaft ausgeführt und nebenher Namen von Hexen und Magiern gesammelt.
Noir bedeutete ihm, vor