Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
mitten im Flur?«, fragte die jüngste Tochter der Familie ärgerlich, als sie sich zu ihren Eltern ins Esszimmer gesellte.
»Wenn sie mitten im Flur steht, ist sie ja eigentlich nicht zu übersehen«, erlaubte sich Daniel eine kritische Bemerkung.
»Schon. Aber nicht, wenn man blind vor Liebe ist«, konnte sich ihr Zwillingsbruder Janni eine freche Bemerkung nicht verkneifen und wich geschickt dem Schlag aus, den Dési ihm versetzen wollte.
»Hahahaha, sehr witzig«, kommentierte sie seine Bemerkung und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Du bist doch nur neidisch, weil du bei Kessy abgeblitzt bist.«
»Habe Hoffnungen, aber niemals Erwartungen. Dann erlebst du vielleicht Wunder, aber niemals Enttäuschungen«, erklärte Jan mit einem Gesichtsausdruck und in einem Tonfall, der eines Weisen würdig gewesen wäre.
Ungläubiges Schweigen erfüllte den Raum, bis Felix in wieherndes Gelächter ausbrach.
»Mann, der war gut. Den muss ich mir merken, wenn Frau Riemerschmidt das nächste Mal an mir rummeckert«, japste er schließlich nach Luft, als schließlich und endlich seine Schwester Anneka ins Esszimmer kam.
Sie war die letzte im Bunde und hätte noch eine Stunde länger schlafen können.
»Habt ihr eigentlich schon mal was von Rücksichtnahme gehört?«, murrte sie verschlafen, drückte ihrem Vater und ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und setzte sich auf ihren Platz. »Hier geht’s zu wie im Irrenhaus. Und wer hat eigentlich die Leiter mitten im Treppenhaus stehen gelassen? Ich hätte sie um ein Haar umgerannt.«
»Ich wusste gar nicht, dass alle Bewohner dieses Hauses ein Problem mit den Augen haben«, erwiderte Daniel belustigt. Er hatte sein Frühstück inzwischen beendet und trank den letzten Schluck Kaffee, ehe er aufstand. »Ich werde die Leiter höchstpersönlich wieder an ihren Platz bringen…«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, widersprach Lenni, die, die Hände in die Hüften gestützt, wieder in der Tür aufgetaucht war. »Wie sollte ich denn sonst die Gardinen wieder aufhängen, die ich gewaschen habe?«
»Das erledige ich heute Abend für Sie«, bot Daniel Norden im Brustton der Überzeugung an. »Nicht, dass Ihnen wieder schwindlig wird.«
Doch damit stieß er nicht auf die erhoffte Gegenliebe.
»Sie sind genug beschäftigt in letzter Zeit«, erwiderte Lenni entschieden. »Mal abgesehen davon, dass ich Ihnen ja auch nicht einfach die Arbeit wegnehme.«
Daniel und Fee tauschten verblüffte Blicke. So harsch war die Haushälterin selten mit ihrem Chef ins Gericht gegangen.
»Ich wollte Ihnen nur behilflich sein«, verteidigte sich Dr. Norden. »Aber wenn Sie ohne mich klarkommen, mache ich mich jetzt auf den Weg in die Klinik. Bist du fertig, Feelein?« Seit sie denselben Arbeitsweg hatten, fuhren sie immer zusammen, um wenigstens so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen.
»Ja, ich denke, ich hab alles. Wiedersehen, Kinder!« Ganz liebevolle Mutter ging Fee einmal um den Tisch herum, um jeden Sprössling mit einem Kuss zu verabschieden. »Einen schönen Tag euch.« Als sie bei Felix angelangt war, beugte sie sich über ihn. »Du musst ja als Letzter weg. Schaust du ein bisschen auf Lenni? Nicht, dass ihr noch was passiert«, bat sie ihn unter den Argusaugen der Haushälterin flüsternd.
»Klar«, versprach Felix und lachte Lenni, die versucht hatte zu lauschen, freundlich an.
Die fühlte sich ertappt und drehte sich mit brennend roten Wangen schnell wieder um.
Fee, die wusste, dass sie sich auf ihre Kinder verlassen konnte, verließ an der Seite ihres Mannes beruhigt das Haus. Schon war auch sie in Gedanken wieder bei ihrer Arbeit und freute sich schon jetzt auf die Herausforderungen, die der neue Tag bringen mochte.
*
Auch in der kleinen Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ herrschte um diese Uhrzeit schon lebhaftes Treiben.
»Frau Wallner hat vier einfache Brötchen, drei Seelen, drei Laugenknoten und zwei Wurzelzöpfe bestellt«, las Danny Norden laut aus dem dicken Kalender vor, in dem seine Freundin die täglichen Bestellungen notierte.
Tatjana stand hinter ihm vor den Körben mit den unterschiedlichsten Backwaren und beschriftete und füllte Tüte um Tüte. Seit ihre ungeliebte Mitarbeiterin Dorothee Miller gekündigt hatte und nur noch die Tortenkünstlerin Marianne Hasselt und Tatjana übrig waren, musste Danny seiner Freundin an besonders hektischen Tagen zur Hand gehen. Sonst wäre das Pensum nicht zu schaffen gewesen.
»Jetzt noch vier Brezen und zwei einfache Brötchen für Familie Ambacher und das war’s dann«, erklärte Danny und klappte den Kalender zu.
Tatjana ließ die frischen, handgemachten Backwaren in die Papiertüte fallen und rollte sie zusammen, um sie zu den anderen Tüten in den Lieferkorb zu stecken.
»Vielen Dank, mein Lieber. Ich sag’s ja nur ungern. Aber ich wüsste im Augenblick nicht, wie ich ohne dich über die Runden kommen sollte.« Tatjana stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte Danny einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Schon wollte sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden, als er blitzschnell die Hände auf ihre schmalen Hüften legte und sie wieder zu sich umdrehte.
»Moment mal. Wenn die Bezahlung weiter so mau ist, werde ich wahrscheinlich demnächst kündigen und mich nach einem anderen Job umsehen müssen«, drohte er in gespieltem Ernst.
Erschrocken riss Tatjana die Augen auf. Nach einem Unfall vor einigen Jahren war sie erblindet. Erst durch eine von Danny initiierte Operation hatte sie einen Teil ihrer Sehkraft wiedererhalten. Geblieben war ihr ein fast unheimliches Gespür für das, was in ihrer Umgebung vor sich ging. Sie erahnte nicht nur am Schritt oder Duft eines Parfums, welcher Kunde gerade das Geschäft betrat, sondern erfühlte auch die Stimmungen, die in der Luft schwangen. So wusste sie zwar, dass ihr Freund im Augenblick nur scherzte. Doch etwas an seinem Tonfall hatte sie hellhörig gemacht.
»Was verlangst du? Mehr Quarkbällchen? Käsebrezen? Pizzaschnitten?«, fragte sie trotzdem scherzhaft.
»Ich hatte eher an Naturalien in Form von Zärtlichkeiten gedacht«, erwiderte Danny.
Es war noch früh am Morgen, und sie waren allein in der frisch renovierten Bäckerei mit dem angeschlossenen Café. So konnte er es wagen, seine Hand unter die lange Kellnerschürze gleiten zu lassen, die Tatjana wie immer um ihre Hüften geschlungen hatte.
»Ah, wusste ich doch, dass du immer nur das Eine im Kopf hast«, gluckste Tatjana und drückte sich an ihn.
»Selbst schuld. Das hab ich von dir gelernt«, raunte Danny ihr heiser ins Ohr und küsste ihren Hals.
»Ich kann doch nichts dafür, dass du so unwiderstehlich bist.« Sie küsste ihn leidenschaftlich, ehe sie ihn resolut von sich schob und eine geschäftsmäßige Miene aufsetzte. »Also gut, Herr Norden, Sie haben mich davon überzeugt, dass ich Sie auf keinen Fall als Mitarbeiter verlieren kann. Wenn Sie mit Ihrer Bezahlung nicht zufrieden sind, sollten wir einen Termin vereinbaren, um über Ihre Gehaltswünsche zu sprechen. Wie wär’s mit heute Abend, neunzehn Uhr?«
»Neunzehn Uhr klingt ganz hervorragend. Wo sollen wir uns treffen?«
»Gibt es einen besseren Treffpunkt als die ›Schönen Aussichten«?‹, fragte Tatjana spitzbübisch.
Dieser Name für ihr frisch renoviertes Geschäft war Dannys Idee gewesen, und noch immer war sie begeistert darüber.
»Wenn du hier bist und auf mich wartest, nicht!« Das meinte der junge Arzt ganz und gar ernst und er zog seine Freundin wieder an sich. In den letzten Wochen war die gemeinsame Zeit knapp bemessen und jede Minute kostbar, die sie zusammen verbringen konnten. »Was hast du heute so vor?«, fragte er, als es Zeit zum Aufbruch wurde.
Tatjana warf einen Blick auf die große Bahnhofsuhr, die über dem Durchgang zum kleinen Café hing.
»In einer Viertelstunde stellt sich eine Bäckerin vor. Wer weiß, vielleicht haben wir ja diesmal Glück, und du bist deinen Nebenjob