Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 6 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Kinderarzt meinte, nicht richtig zu hören.
»Bist du sicher? Vielleicht nimmt sie ja auch nur hin und wieder eine Kopfschmerztablette«, suchte er nach einer plausiblen Erklärung für Tommis Beobachtung.
»Seit wann machen Kopfschmerztabletten denn gute Laune?«, grinste der Junge und vergaß völlig, wie schlecht es ihm eigentlich ging.
Mario erschrak noch mehr.
»Sag bloß, du hast das schon ausprobiert?«, fragte er fassungslos.
»Ich hab mal eine stibitzt«, verriet Tommi erstaunlich offen. »Aber Mama hat’s gemerkt und sie weggeräumt.«
In diesem Moment wusste Mario, dass er handeln musste. Er vertröstete Tommi und setzte sich nach nebenan in ein Büro, um mit der Mutter zu telefonieren.
»Tommi ist in der Klinik?«, rief sie ungläubig ins Telefon. »Aber er schreibt doch später Mathe.«
»Deswegen ist er hier. Er hat mich um ein Beruhigungsmittel gebeten, weil er sehr aufgere ..."
Weiter kam Mario nicht.
»Und wo ist das Problem?«, unterbrach ihn Evelyn Bohse verständnislos.
Es kam selten vor, dass der Kinderarzt sprachlos war. Doch das war so ein Moment.
»Es wäre besser, wenn Sie herkämen und Ihren Sohn abholen würden«, machte er einen Vorschlag in der Hoffnung, ein paar persönliche Worte mit dieser Frau wechseln zu können. Diese Hoffnung zerstörte Evelyn mit ihrer nächsten Antwort.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, erklärte sie ohne Zögern. »Diese Schulaufgabe ist enorm wichtig. Tommi braucht eine gute Note, sonst schafft er die Klasse nicht.«
In diesem Moment platzte Dr. Cornelius der Kragen. Er sprach ein paar deutliche Worte über Verantwortung, Aufsichtspflicht und Kinderpsyche.
Tatsächlich schienen seine Aussagen ihre Wirkung nicht zu verfehlen, denn eine halbe Stunde später betrat Evelyn Bohse die Notaufnahme. Doch ein Gespräch kam nicht zustande. Tatenlos musste Mario mit ansehen, wie sie ihren Sohn am Arm packte und Richtung Ausgang zerrte.
»Ich muss unbedingt mit Fee über diesen Fall sprechen«, murmelte er auf dem Rückweg zu seiner Abteilung. »Als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sie demnächst ist, weiß sie sicher eine Lösung.«
Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er die Klinikchefin nicht bemerkte, die ihm auf dem Flur entgegenkam.
»Seit wann führst du denn Selbstgespräche, mein Lieber?«, erkundigte sich Jenny Behnisch, die sich auf die Suche nach dem Leiter der Kinderstation gemacht hatte. Bevor sie die Lernschwester Carina selbst zur Rechenschaft zog, wollte sie die Meinung eines Menschen hören, der sie möglicherweise besser kannte als andere an der Klinik. »Ist alles in Ordnung?«
Als Mario die Stimme seiner langjährigen Freundin und Chefin hörte, blieb Mario stehen. Lächelnd drehte er sich um.
»Wenn es in Ordnung ist, dass ein Junge sich aus Prüfungsangst in die Klinik bringen lässt, Beruhigungsmittel von mir verlangt und auch noch Unterstützung von seiner Mutter bekommt ... dann ... ja, dann ist alles in Ordnung«, fasste er die Begegnung mit Tommi und seiner Mutter Evelyn knapp zusammen.
»Oh, okay«, erwiderte Jenny und dachte kurz nach. »Über diesen Fall sollten wir mit Fee sprechen. Vielleicht weiß sie eine Lösung«, wiederholte sie Marios Gedanken. Die beiden tauschten einen verständnisinnigen Blick, ehe Jenny ihn in ihr Büro bat. »Aber ich hab da auch noch ein anderes Anliegen.« Sie bot ihm einen Platz in der gemütlichen Besucherecke an, schob die Zeitung zur Seite, die auf dem Tisch zwischen ihnen lag, und deutete auf die Schale mit frischem Gebäck, das jeden Morgen von der Bäckerei Bärwald geliefert wurde. »Zuerst musst du aber unbedingt von Tatjanas unglaublichem Butterkuchen kosten. Der ist wirklich eine Sünde wert.«
Das ließ sich Mario nicht zwei Mal sagen und biss in den saftigen Hefeteig. Genießerisch schloss er die Augen.
»Wahnsinn! Mit dieser Frau hat Danny ein unverschämtes Glück!«, geriet er unversehens ins Schwärmen.
Das war das Stichwort für Jenny. Auch sie hatte sich ein Stück der Süßigkeit gegönnt und leckte sich den Zucker von den Fingern.
»Apropos Frau. Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen.«
Um ein Haar hätte sich Mario an seinem Kuchen verschluckt. Schnell trank er einen Schluck Kaffee und verbrannte sich prompt die Zunge.
»Autsch!«
Fürsorglich reichte Jenny ihm ein Glas kaltes Wasser und sah ihm dabei zu, wie er trank.
»Diese Jugend. Immer so stürmisch.«
»Sei froh, dass du aus diesem Alter raus bist«, grinste Mario, der seinen Humor schon wiedergefunden hatte. »Aber um auf die Frau zurückzukommen ... ich nehme an, du sprichst von Carina«, hatte er inzwischen beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Du musst dir keine Sorgen machen. Zwischen uns ist nichts passiert, was du nicht wissen dürftest. Alles andere sind Gerüchte von Neidern.«
»Oh, ich habe nichts dagegen, wenn sich meine Mitarbeiter gut verstehen. Und auch nicht gegen mehr«, lächelte Jenny vielsagend. »Wenn beide hier arbeiten, wissen sie wenigstens, dass es hier um Leidenschaft für den Beruf geht.«
»Ich wusste schon immer, dass du eine kluge Frau bist.« Mario nickte anerkennend, ehe er zum Thema zurückkehrte. »Aber was kann ich denn jetzt genau für dich tun?«
Jenny Behnisch antwortete nicht sofort. Der Verdacht lag ihr bleischwer im Magen. Doch es nützte nichts.
»Hältst du es für möglich, dass sich Carina am Medikamentenschrank bedient?«, fragte sie schließlich zögernd.
Zuerst meinte Mario Cornelius, sich verhört zu haben. Er starrte seine Chefin ungläubig an.
»Du verdächtigst ausgerechnet Carina des Diebstahls?«, fragte er fassungslos. »Wie kommst du denn darauf?«
Schweren Herzens berichtete Jenny von der Meldung der Schwester.
»Es war ihr selbst höchstpeinlich, Carinas Namen in diesem Zusammenhang zu nennen.«
»Und du bist dir sicher, dass Carina kein Bauernopfer für die Schlamperei anderer ist?«, brauste Mario unwillig auf.
Um seinen nervösen Händen etwas zu tun zu geben, griff er nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag, und starrte auf die Schlagzeilen.
Auch über seinen Einwand hatte sich Jenny bereits Gedanken gemacht. Erst tags zuvor war Schwester Carina bei ihr gewesen, um sich über die ihrer Ansicht nach nachlässige Arbeitsweise der neuen Gynäkologin zu beschweren. Da war der Anruf aus der Gynäkologie natürlich mehr als verdächtig gewesen.
»Natürlich haben wir keine Beweise ...«
»Moment mal ...« Mario hörte seiner Chefin und langjährigen Freundin der Familie nicht mehr zu. Der Leitartikel der Zeitung hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und er hatte die ersten Zeilen überflogen. »Hast du gewusst, dass unsere neue Gynäkologin mit dem Typen zusammen war, der für die Gasexplosion verantwortlich ist?«, fragte er aufgeregt.
»Nein, wusste ich nicht«, wollte Jenny Behnisch ungeduldig abwinken, als sie doch hellhörig wurde.
Doch das war noch nicht alles. Marios Augen klebten förmlich an der Zeitung.
»Außerdem wurden in der abgebrannten Wohnung Reste von Opiaten gefunden. Mich laust der Affe, wenn es sich um dasselbe Medikament handelt, das bei uns verschwunden ist.«
Auch Jennys Herz begann, vor Aufregung schneller zu schlagen. Der Gedanke daran, dass Laura Merz etwas mit dem Diebstahl zu tun haben konnte, war ungeheuerlich. Ausgerechnet die neue Gynäkologin, ihre große Hoffnung.
»Steht der Name des Präparats drin?«
»Nein.«
Jennys Augen wurden schmal.