Venezianische Kurzgeschichten. Gerhard Tötschinger
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GERHARD TÖTSCHINGER
VENEZIANISCHE
KURZGESCHICHTEN
AMALTHEA
GERHARD TÖTSCHINGER
VENEZIANISCHE KURZGESCHICHTEN
GERHARD TÖTSCHINGER
VENEZIANISCHE KURZGESCHICHTEN
MIT ILLUSTRATIONEN VON KLAUS SEITZ
© 2009 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen und Buchgestaltung: Klaus Seitz
Herstellung und Satz: Wilhelm Missauer
Gesetzt aus der 10/13,5 pt Walbaum Antiqua
Produktion: Grasl Druck & Neue Medien, Austria
ISBN 978-3-85002-701-4
eISBN 978-3-902862-47-1
INHALT
Stürzt die Paläste in die Kanäle!
Für
Christiane Hörbiger
Man sieht nur, was man weiß
Der Tag hat schon nicht gut angefangen. Sie bekamen aus irgendeinem blödsinnig lächerlichen Anlass einen Streit, wurden boshaft, beide, fanden nicht mehr heraus.
Sie legte ihm später beim Frühstück die Hand auf den Arm, und setzte zu einem ehrlich gemeinten Lächeln an, nicht zu einem von der Art, die nur beweisen sollte, wie sehr man nicht schuld an der unerfreulichen Situation war.
Aber das Lächeln kam zum falschen Zeitpunkt an, kam also im doppelten Wortsinn nicht an. Denn er hatte sich in diesem Moment ebenfalls zu einem Lächeln entschlossen, das aber nicht ihr, sondern der rundlichen Serviererin mit dem hellblond gefärbten Haar gelten sollte. Ihre Hand auf seinem Arm, in gerade diesem Augenblick, machte seine casanoveske Phase zunichte. Hektisch entzog er ihr den Arm, und nun war er wirklich endgültig im Unrecht.
Auch die rundliche Serviererin hatte einen unerfreulichen Tagesbeginn zu beklagen. Ihr Ältester war nicht nach Hause gekommen, das kam eben vor bei einem Achtzehnjährigen, aber er hatte versprochen gehabt, die Zwillinge in den Kindergarten zu bringen. Dazu kam es nun also nicht, so musste die Geplagte um halb sieben, so lange hatte sie auf den Sohn gewartet, die beiden Fünfjährigen bei der verschlafenen und schlecht aufgelegten Nachbarin abgeben.
Der Bus fuhr ausnahmsweise pünktlich und daher ihr vor der Nase davon, so blieb nur, zum Bahnhof zu laufen, tatsächlich zu laufen, und sie erreichte zwar den Zug um 6.51 ab Mestre, aber sie kam trotzdem zu spät an ihren Arbeitsplatz.
Für einen Flirt mit einem rundlichen Hotelgast ohne Haare, ob mit oder ohne Ehefrau, hatte sie schon deshalb keinen Sinn, weil sie leise hoffte, dass der unbeweibte Nachtportier sich endlich erklären würde. Seit ihr Ehemann nach Kalabrien zurückgegangen war, ohne eine Adresse zu hinterlassen, und der Vater der Zwillinge den Aufenthalt in Mestre mit einem in Norddeutschland, in irgendeinem Gefängnis, getauscht hatte, war sie alleine.
Der Nachtportier hatte noch gut und gerne zehn Jahre bis zur Rente, sah auch nett aus, aber er schien den Sinn ihrer Blicke und Andeutungen nicht zu begreifen. Auch der Nachtportier war an diesem Morgen in einer Weise missgelaunt, die für ihn nicht typisch war. Er hatte seinen Dienst zum guten Teil mit einer Flasche Rotwein verbracht, deren Ende er noch eine halbe folgen ließ, war gegen fünf Uhr eingeschlafen, hatte den Gast von 115 nicht geweckt, und alles, weil dieser undankbare Luigi schon den dritten Tag nicht heimgekommen war. Sie lebten nun seit elf Monaten zusammen, waren beide nicht mehr sehr jung, da war es schwer, einen neuen Partner zu finden. Er war mit Luigi glücklich, aber diese Ausfälle alle fünf, sechs Wochen, das ging über seine Kraft. Und diese dicke Serviererin, die ihm dauernd zuzwinkerte, fiel ihm auch auf die Nerven.
Herr und Frau Schäfer hatten ihr Frühstück mit Schweigen verbracht, nun musste geredet werden, das Tagesprogramm war noch nicht klar.
„Also, Marianne, was befiehlst du? Kultur, teure Auslagen?“
„Friedrich, lass uns den Tag retten. Was möchtest du denn unternehmen?“
Er wusste es genau – zum Friseur, die waren hier viel besser als in Schaffhausen, und danach in diese Werft oder was das war, vom Schiff aus hatte er sie gesehen.
„Gut, einverstanden. Geh zum Friseur, ich laufe ein wenig herum und danach suchen wir gemeinsam die Werft.“
Und wegen dieser zweiten Waffenstillstandserklärung, und weil die gewisse Serviererin nicht mehr zu sehen war, gab er ihr einen Kuss und alles war wieder gut. Sie vereinbarten, sich vor dem Hotel mit dem deutschen Namen zu treffen – „Ach ja, Bauer, richtig! Friedrich, Ciao!“
„Ciao!“
Marianne spazierte durch Paradiese der Mode, kokettierte hier mit einem Kauf, da mit ihrem Alter – „Das kann ich ruhig noch tragen!“ – und entschied sich am Ende für eine Krawatte.
Sie war zu früh am vereinbarten Treffpunkt, erschrak angesichts der Preise für die herrlichen Murano-Gläser in der Auslage gegenüber dem Hotel, und dann sah sie einen Mann vor sich, der schütteres, sofern vorhanden dunkelbraunes, leicht gekräuseltes Haar trug, und eine rote kurze Jacke aus einer Art Ballonseide. Er stand mit ausgebreiteten Armen vor ihr, lächelte verführerisch – oder was er eben dafür hielt – und drehte sich einmal rundherum.
Marianne Schäfer starrte ihren Mann an, in seiner neuen – halt, er würde das nun nicht Aufmachung nennen, das war ein Outfit. Sie wagte nicht, ihm die Krawatte zu geben, immerhin Hermés, aber wahrscheinlich zu wenig mutig. Und sie wagte ebenso wenig, fertig zu denken, was ihr durch den Kopf ging. Vielleicht konnte ja Friedrich ihre Gedanken erraten … Jedenfalls sah er nun aus wie fünfundfünfzig und nicht mehr wie fünfundvierzig, mit der weißen Kopfhaut, die durch den dunklen Haarrest schimmerte, und der merkwürdigen Jacke. Sie verbarg ihre Gedanken, indem sie ihre Brille aus der Tasche nahm, dann entschloss sie sich zu einem Kompliment.
„Toll! Und in der kurzen Zeit!“
Er hielt sich für sehr italienisch, das gab ihm Auftrieb, und weil Marianne ihn so nett gelobt hatte, war er nun guter Dinge und gab sich verliebt.
Friedrich legte den Arm um Mariannes Schultern, drückte sie an sich, und sie spazierten