Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon

Mami Staffel 8 – Familienroman - Lisa Simon


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Roland setzte Julia vor dem Mietshaus, in dem sie eine kleine gemütliche Wohnung hatte, ab. »Wollen wir es morgen noch einmal versuchen?«

      »Auf jeden Fall! Ich werde die Suche nicht aufgeben, bis Kevin gefunden wurde!« erwiderte Julia heftiger, als sie eigentlich wollte. Das spurlose Verschwinden ihres Schützlings hatte sie nervös und gereizt gemacht. Roland konnte doch nichts dafür, daß Kevin fortgelaufen war.

      Julia war sich sicher, daß Roland sich früher um seinen Sohn gekümmert hätte, wenn er nur gewußt hätte, daß er ein Kind hatte. Versöhnlich fragte sie: »Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen? Der Tag war anstrengend für uns alle.«

      »Gern, wenn es Ihnen keine Umstände macht«, antwortete Roland. Es war ihm deutlich anzuhören, daß er sich über die überraschende Einladung freute.

      Normalerweise lud Julia keine fremden Männer in ihre Wohnung ein, aber bei Roland war das etwas ganz anderes. Sie kannte ihn zwar erst seit zwei Tagen, doch es war etwas Vertrautes an ihm, so daß sie schnell jede Scheu vor ihm verloren hatte.

      »Sie haben es hübsch hier«, sagte er anerkennend, als sie in Julias Wohnzimmer saßen und Julia Tassen, Milch und Zucker auf dem kleinen Marmortisch abstellte. »Richtig schön. Wenn ich an meine Wohnung denke – so kühl und unpersönlich. Eigentlich bin ich immer froh, wenn ich sie morgens verlassen kann und erst spätabends zurückkomme.«

      Julia lachte. »Nun, soviel Zeit verbringe ich auch nicht hier, mein Dienst im Waisenhaus ist ziemlich zeitaufwendig. Aber wenn ich zu Hause bin, möchte ich es gemütlich haben. Es hat mir viel Spaß gemacht, mir damals die Wohnung einzurichten.«

      »Sie sind hier erst eingezogen, als Sie im MARRIENKÄFER anfingen zu arbeiten?« fragte Roland interessiert.

      »Ja, ich stamme ursprünglich aus Frankfurt.«

      »Oh, da muß Ihnen unser kleines Neustadt ja wie ein Provinznest vorkommen!«

      »Eigentlich hatte ich nie den Eindruck. Es hat mir von Anfang an hier sehr gut gefallen, die hektische Großstadt ist im Grunde genommen nichts für mich.«

      »Wo haben Sie vorher gearbeitet?«

      »Auch in einem Heim, aber das war nicht so schön wie unser Waisenhaus. Wir waren damals für zweihundert Kinder zehn Erzieherinnen und Pflegerinnen, für die kleinen persönlichen Sorgen der Kinder war nie Zeit. Das war auch der Grund, daß ich nach Neustadt übergesiedelt bin.«

      »Sie haben sich immer aufopfernd um Kevin gekümmert, nicht wahr?« fragte Roland und sah fast liebevoll zu der hübschen Erzieherin, die ihm gegenüber saß.

      »Ja, er ist ein ganz besonderer Junge. Ich glaube, jede meiner Kolleginnen hat einen heimlichen Liebling, aber das müssen wir natürlich für uns behalten. Alle Kinder sollen gleich behandelt werden – und das ist ja eigentlich auch richtig.« Sie erzählte ihm von dem kleinen Geburtstagsgeschenk, das sie in ihren Spind geschmuggelt hatte.

      Dann schwiegen beide, sie dachten an Kevin, der irgendwo da draußen vielleicht orientierungslos herumirrte.

      »Ich glaube nicht, daß wir eine Spur von ihm finden, wenn wir nur kreuz und quer durch die Straßen fahren«, sagte Julia plötzlich.

      »Das hat die Polizei doch schon gemacht, und tut es immer noch«, bemerkte Roland resigniert.

      »Aber was sollen wir denn sonst machen? Wir können doch nicht einfach tatenlos dasitzen und warten, bis die Polizei etwas gefunden hat!«

      »Nein, das will und kann ich auch nicht. Aber eventuell haben wir eine größere Chance, wenn wir mit einem Foto von Kevin an allen Haustüren klingeln?«

      Julia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, sein Foto war doch groß in den Tageszeitungen und übermorgen wird die Suchmeldung im Fernsehen gebracht.«

      »Aber nicht alle Leute lesen die Tageszeitung oder sehen fern. Das ist vielleicht eine Möglichkeit, etwas über meinen Sohn herauszufinden.«

      Julia überlegte. Was Roland sagte, klang gar nicht dumm. Sie erinnerte sich an ihre Tante Josefine, die alles aus der Nachbarschaft wußte, aber nie eine Tageszeitung las und keinen Fernseher besaß.

      Sie behauptete immer, daß sie keinen brauchte, weil es in ihrer nahen Umgebung viel Interessanteres zu hören und sehen gab.

      »Wir können es ja mal versuchen«, sagte sie nach einer Weile. »Außer unserer Zeit kostet es ja nichts. Und ich glaube nicht, daß die Leute sich belästigt fühlen, wenn sie erfahren, daß ein Kind spurlos verschwunden ist.«

      »Eben«, pflichtete Roland ihr bei. »Ein Versuch schadet nicht, mehr können wir sowieso nicht machen.«

      *

      Bärbel Jensen war begeistert, als Julia ihr am nächsten Morgen den Vorschlag unterbreitete. »Wenn der Junge noch in der Stadt ist, muß in doch jemand gesehen haben, außer…« Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt im Raum hängen, aber Julia wußte genau, was die Heimleiterin meinte: Kevin könnte möglicherweise gleich in der Nacht seines Verschwindens einem Verbrecher in die Arme gelaufen sein.

      Aber daran wollte Julia nicht glauben. Doch auch die Polizeimeisterin Ellen Langner hatte angedeutet, daß man inzwischen von einem Verbrechen ausging.

      »Ich habe übrigens gestern abend noch Marion Seifert erreicht. Sie schien nicht sonderlich besorgt zu sein, will sich aber sofort hier melden, falls Kevin doch in der Schweiz auftauchen sollte. Ach ja, Herrn Westermanns Schilderungen hat sie auch bestätigt – er ist einwandfrei Kevins Vater.«

      Julia nickte. Sie hatte schon längst gesehen, daß Roland und Kevin Vater und Sohn waren, die Ähnlichkeit zwischen den beiden war einfach verblüffend. Je länger sie Roland kannte, um so mehr gleiche Details fielen ihr auf.

      Sie spürte, wie sie rot wurde, wie immer, wenn sie an Roland dachte. Warum hatten sie sich nicht unter glücklicheren Umständen kennengelernt?

      »Wollen Sie dasselbe Foto nehmen wie die Leute von der Zeitung?« fragte Bärbel Clasen in Julias Gedanken hinein.

      »Äh… ja, ich glaube, das ist sehr gut getroffen.«

      Einmal jährlich kam ein Fotograf in das Waisenhaus und machte von jedem Kind ein postkartengroßes Farbporträt, auch, um zukünftigen Adoptiv- oder Pflegeeltern zeigen zu können, wie sich die Kinder im Laufe der Jahre veränderten.

      Erst einen Monat vor Kevins Geburtstag war wieder solch eine Fotoaktion gemacht worden. Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich Kevin sehr verändert: die runden Kleinkinder-Pausbacken waren fast verschwunden und statt des staunenden Gesichtsausdrucks blickte der Junge ernst in die Kamera.

      »Wann kommt denn Herr Westermann?« fragte Frau Clasen, während sie Julia einen Abzug von Kevins Bild reichte. »Wollen Sie heute schon mit Ihrer privaten Suchaktion starten?«

      »Je früher, desto besser«, erwiderte Julia. »Herr Westermann wird gegen siebzehn Uhr hier sein und mich abholen.«

      Julia besaß zwar selbst ein Auto, aber das war fast ständig in der Werkstatt. Im Moment stimmte etwas mit der Nockenwelle nicht, hatte der Mechaniker gesagt. Und weil mehr reparaturbedürftige Autos als Arbeitskräfte in der Werkstatt waren, würde die Reparatur frühestens erst in einer Woche gemacht werden können. Natürlich war sie nicht begeistert gewesen – doch jetzt kam ihr das altersschwache, kaputte Gefährt wie gerufen. So konnte sie immer zusammen mit Roland fahren, ohne sich verdächtig zu machen.

      Immer wieder sah Julia an diesem Tag auf ihre Uhr, die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen. Zwischendurch kam Ellen Langner mit einem begleitenden Kollegen im Heim vorbei. Sie schimpfte wie ein Rohrspatz über die Reporter vor dem Heim, die immer mehr zu werden schienen.

      »Aber es hat auch etwas Gutes, daß die Öffentlichkeit ständig unterrichtet wird«, nahm die Heimleiterin die neugierigen Journalisten in Schutz. »Dadurch haben jetzt auch überregionale Zeitungen den Fall aufgegriffen. Ich werde mich wohl oder übel bald den Reportern stellen.«

      »Aber wieso denn?« fragte Ellen entgeistert. »Die wollen Sie doch nur


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