Auferstehung. Лев Толстой
seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.
(Ev. Luc. 8, 40.)
Es erfüllt den Herausgeber von »Kürschners Bücherschatz« mit berechtigtem Stolze, das großartige Werk Leo Tolstois in W. Thals trefflicher Uebersetzung hierdurch zuerst und in jeder Hinsicht weitesten Kreisen zugänglich machen zu können. Es geschieht im Vertrauen auf die Unbefangenheit und die Reife des Lesers, dem hier ein so vollständig Anderes entgegentritt, daß er auch eines anderen Maßstabes und vor allem eines freien und unbefangenen Blickes bedarf, um dem Ungewöhnlichen gegenüber den rechten Standpunkt zu gewinnen. Tolstoi schreibt mit der Wahrheit des großen und lauteren Charakters, voll Liebe für die Menschheit, als Vertreter heiligster Sache. Er zeigt dabei, was die Verhältnisse zu zeigen ihn zwingen, aber nur Böswilligkeit und Unlauterkeit des Herzens können daran Anstoß nehmen, kein Einsichtiger wird verkennen, daß gerade diese Wege gegangen werden mußten, um zu diesem Ende zu gelangen. Der Eisenbahnzug, den der Dichter im letzten Kapitel seines Werkes den Steppen Sibiriens entgegenrollen läßt, gemahnt an den Train, der am Schlusse eines der gewaltigen Rougon-Macquart-Romane Zolas führerlos der Grenze zueilt, aber während dieser seine Insassen sicherem Untergange zuführt, dämmert jenem das erlösende Morgenrot der Auferstehung entgegen!
Des Dichters Absicht ist, in einer Art von Epilog auch die letzten Einzelheiten dieser Auferstehung, zu dem das ganze Werk hinleitet, zu behandeln. Führt er sie aus, soll auch diese Arbeit des russischen Dichters und Apostels der Menschlichkeit den Lesern des Bücherschatzes nicht vorenthalten bleiben.
Joseph Kürschner.
Vorwort
Die »Auferstehung«, das letzte Werk bei Grafen Leo Tolstoi, das wir in deutscher Uebertragung dem Publikum bieten, darf wohl als eine Kulturthat unserer Jahrhundertwende bezeichnet werden, und wohl selten hat ein Werk schon vor seinem Erscheinen so viel Erregung hervorgerufen, wie gerade dieses. Selbst das Aufsehen, das die »Kreutzersonate« vor etwa zehn Jahren erregte, ist nicht damit zu vergleichen. Noch während damals die Meinungen vielfach geteilt waren und viele Bewunderer des Schriftstellers zu den Ausführungen des Philosophen und Moralisten den Kopf schüttelten, ist man wohl diesmal in der Beurteilung der »Auferstehung« so ziemlich einer Meinung, daß Tolstoi die Welt – nicht nur sein engeres Vaterland – mit einem Kunstwerk ersten Ranges beschenkt hat, das jeder Büchersammlung zur höchsten Ehre gereicht, Selbst der heikle Stoff kann nichts daran ändern, denn nur die dringendste Notwendigkeit hat den Dichter veranlaßt, in die Nachtseiten des Lebens hinabzusteigen, und zudem behandelt er die heikelsten Dinge mit einem so sittlichen Ernste, einer mit größter Wahrheitsliebe Hand in Hand gehenden Decenz, die ihn von vielen seiner großen Kollegen unterscheidet! Wie ganz anders hätte Zola, Annunzio oder ein deutscher Naturalist denselben Stoff behandelt! Unsere einsichtsvollen Leser werden es uns Dank wissen, daß wir nur geringe Milderungen vorgenommen und den Gedanken des Meisters nicht durch sinnlose Streichungen und Verbesserungen verballhornt haben! – Ist doch das Werk Tolstois eine Meisterschöpfung, die der Bewunderung eines Jeden, würdig ist, und Bewunderung erfaßt uns allein schon, wenn wir sehen, welche Fülle von Gebieten Tolstoi im Rahmen seines Romans behandelt! Alle Einrichtungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens werden kritisch beleuchtet und mit unerbittlicher Sonde untersucht; die ganze überfirnißte Hohlheit der vornehmen Welt, die unvermeidlichen Schäden der russischen Gesetzgebung, die im Formelkram befangen, selbst die Rehabilitierung eines Unschuldigen nicht zuläßt, sondern ihn eher nach Sibirien verschickt, als einen Fehler zugiebt, die unmenschliche Behandlung der Gefangenen, dieser blutrote Faden, der sich seit Jahrhunderten durch die Geschichte Rußlands zieht, die ungerechte Verteilung der Güter, die den Bauern zum willenlosen Sklaven des Feudalherrn herabdrückt und den russischen Muschik trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft zum Werkzeug der »Herrschaft« macht und in Elend und Knechtschaft noch auf lange Zeit erhalten wird – das alles findet in Tolstoi, der hier die Theorie Henry Georges zu der seinen gemacht hat, einen leidenschaftlichen Ankläger.
Aber man glaube nicht etwa, daß der Verfasser über der Tendenz das Werk selbst vernachlässigt hat. Im Gegenteil! Es ist eine bis in kleinste Detail spannende und hochinteressante Kriminalgeschichte, der Roman einer unschuldig zu Zwangsarbeit Verurteilten, und man kann sagen, daß Tolstoi, der Siebzigjährige, sich mit diesem Werke selbst übertroffen hat und daß die »Auferstehung« sogar »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« in den Schatten stellt. Trotz aller Einfachheit des Stils hat er es verstanden, eine an dramatischen Scenen unendlich reiche Handlung zu erfinden oder vielmehr nicht zu erfinden, denn seine Heldin ist eine lebende Figur und ihre Geschichte leider nur zu wahr, und selbst Alexander Dumas und Eugène Sue, diese Meister der »spannenden Effekte«, haben nichts Interessanteres und Packenderes geboten, als dieses so unendlich einfache und natürliche Werk. Alle Figuren leben, sie sind wirklich gesehene Menschen, keine ins Uebermäßige vergrößerte Edelgestalten oder titanenhaften Schurken, wie sie der Verfasser des »Monte Christo« und auch Victor Hugo in seinem »Glöckner von Notre Dame« schufen. Hier haben wir Typen vor uns, die uns jeden Tag auf der Straße begegnen, die uns gerade darum so ergreifen und rühren, weil ihre Schicksale, ihre Leiden und Freuden uns menschlich nahe gehen, weil wir sie verstehen und begreifen, wie sie der Dichter verstanden und begriffen hat. Mit diesem Werke hat sich Tolstoi – unabhängig von seinen früheren Schriften – ein unvergängliches Denkmal in der Litteraturgeschichte geschaffen, und hätte er nichts weiter als die »Auferstehung« verfaßt, es würde doch auf ihn das Wort des Dichters passen:
»Es wird die Spur von seinen Erdentagen
nicht in Aeonen untergehen«
Der Uebersetzer
Vergeblich bemühten sich einige hunderttausend Menschen, die auf kleinem Raum vereinigt waren, die Erde zu verstümmeln, auf der sie lebten; umsonst erdrückten sie die Erde unter Steinen, damit nichts aufkeimen konnte; umsonst rissen sie das kleinste Grashälmchen aus; umsonst verpesteten sie die Luft mit Petroleum und Steinkohle; umsonst beschnitten sie die Bäume; umsonst jagten sie die Tiere und Vögel fort; der Frühling war, selbst in der Stadt, immer noch der Frühling. Die Sonne strahlte; das Gras begann wie neubelebt wieder zu wachsen, nicht nur auf dem Rasen des Boulevards, sondern auch zwischen den Straßenrinnsteinen; die Birken, Pappeln und Maulbeerbäume entfalteten ihre feuchten und duftenden Blätter; die Linden zeigten ihre dicken, fast schon platzenden Knospen; die Krähen, Sperlinge und Tauben arbeiteten lustig an ihren Nestern; die Bienen und Fliegen summten an den Wänden und freuten, sich, daß die gute warme Sonne wiedergekehrt war. Alles war lustig, die Pflanzen, die Insekten, die Vögel, die Kinder. Nur die Menschen fuhren fort, sich und andere zu quälen und zu betrügen. Nur die Menschen meinten, nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese himmlische Weltenschönheit, die zur Freude aller lebenden Wesen geschaffen war und sie alle zum Frieden, zur Eintracht und Zärtlichkeit zurückführen sollte, wäre wichtig und heilig, nein, wichtig und heilig wäre nur das, was sie selbst ersonnen, um sich gegenseitig zu quälen und zu betrügen.
So wurde es auch in dem Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für wichtig und heilig erachtet, daß die Freude und Wonne des Frühlings den Menschen beschieden war, sondern daß die Beamten dieses Bureaus am vorigen Abend ein mit einem Siegel verschlossenes, am Kopfe mit vielen Nummern versehenes Blatt erhalten hatten, das sie anwies, an demselben Morgen des 28. April 9 Uhr drei Angeklagte, zwei Frauen und einen Mann, jeden getrennt, nach dem Justizgebäude zu bringen, und zwar behufs ihrer Aburteilung. Dieser Anweisung zufolge trat am 28. April um 8 Uhr morgens ein alter Wärter in den düsteren und stinkenden Korridor der Frauenabteilung. Sofort eilte ihm die Aufseherin der Abteilung, ein Geschöpf von kränklichem Aussehen, das eine graue Nachtjacke und einen schwarzen Rock trug, entgegen und sagte:
»Sie wollen die Maslow holen?«
Dann ging sie mit dem Wärter auf eine der zahlreichen, auf den Korridor führenden Thüren zu. Der Wärter steckte mit, lautem Klirren einen dicken Schlüssel in die Thür, die beim Oeffnen einen noch gräßlicheren Gestank aus dem Gange entströmen ließ