Berufung. Timothy Keller
„wüst und leer“ (1. Mose 1,2 LU), und im weiteren Verlauf verändert Gott diesen Zustand – durch sein Arbeiten und Wirken. Er gibt der Welt Form. Wo sie formlos und undifferenziert ist, gibt er Gestalt und Vielfalt. Er nimmt das Allgemeine und strukturiert es, indem er z. B. den Himmel vom Meer „trennt“ (1,7) und das Licht von der Dunkelheit (1,4). Wir sehen diese Liebe an der Vielfalt auch bei der Erschaffung Evas. Gott hätte ohne Weiteres nur eine Art von Menschen erschaffen können; stattdessen erschuf er uns in zwei voneinander verschiedenen, sich ergänzenden und doch gleichwertigen Geschlechtern. Die Erschaffung Adams und Evas als geschlechtlicher Wesen führt zur biologischen Fortpflanzung – noch eine Variante, wie wir als Gottes Ebenbilder das Werk, das er am Anfang tat, fortführen. Und wo etwas leer ist, füllt Gott es. An den ersten drei Schöpfungstagen schafft er verschiedene Bereiche (Firmament; Himmel und Wasser; Erde), die er in den zweiten drei Tagen mit „Bewohnern“ füllt (Sonne, Mond und Sterne; Vögel und Fische; Landtiere und Menschen).
Das Wort „untertan machen“ deutet also an, dass Gott die Welt in ihrer ursprünglichen Gestalt, vor dem Sündenfall, auf Arbeit angelegt hat. Er hat die Welt so geschaffen, dass selbst er arbeiten musste, damit sie so würde, wie er es geplant hatte, und all ihren Reichtum und ihr Potenzial entfaltete. Es ist kein Zufall, dass in 1. Mose 1,28 Gott uns auffordert, das zu tun, was er selber tut – zu füllen und untertan zu machen.
Kulturbauer an Gottes Seite
Der Philosoph Albert Wolters schreibt:
Die Erde war ohne jede Form und leer gewesen, und in dem Sechs-Tage-Prozess der Entwicklung hatte Gott sie gestaltet und gefüllt – aber nicht ganz. Jetzt müssen die Menschen das Werk der Entwicklung fortführen: Indem sie fruchtbar sind, füllen sie die Erde noch mehr; indem sie sie sich untertan machen, gestalten sie sie noch mehr … Als Gottes Stellvertreter machen [wir] dort weiter, wo Gott aufgehört hat. Doch dies ist jetzt eine Entwicklung der Erde durch den Menschen. Die Menschen werden die Erde mit sich selber füllen, und sie werden sie für sich selber gestalten. Die weitere Entwicklung der erschaffenen Erde wird ihrem Wesen nach eine gesellschaftliche und kulturelle sein.51
Wenn wir gegenüber der Schöpfung Gottes Ebenbilder sein sollen, werden wir seine Art zu arbeiten weiterführen. Seine Welt ist nicht ein Feind, den man niederringen muss, sondern ein unerschlossenes Stück Land, das wie ein Garten kultiviert werden will. Wir sollen weder Landschaftsschützer oder Wildhüter sein, die mit Argusaugen darüber wachen, dass ja alles so bleibt, wie es ist, noch den Garten kurzerhand zubetonieren, um einen Parkplatz daraus zu machen. Nein, wir sollen Gärtner sein, die ihre Aufgabe aktiv angehen. Sie lassen das Land nicht so, wie es ist. Sie gestalten es um, um es möglichst fruchtbar zu machen und dem Boden sein ganzes Potenzial an Wachstum und Entwicklung zu entlocken. Sie graben und legen Beete an, gestalten das Rohmaterial des Gartens so, dass es Lebensmittel, Blumen und Schönheit hervorbringt. Und das ist das Grundmuster für jede Art Arbeit. Sie ist kreativ und zielgerichtet. Sie formt das Material der Schöpfung Gottes so um, dass es die Welt im Allgemeinen und die Menschen im Besonderen blühen und gedeihen lässt.
Dieses Grundmuster findet sich in allen Arten von Arbeit. Der Bauer nimmt das Grundmaterial des Bodens und der Saat und produziert damit Nahrungsmittel. Der Komponist nimmt das Rohmaterial der Klänge und macht daraus etwas, das schön ist, die Seele anrührt und das Leben sinnvoller macht. Ob wir aus Stoff ein Kleid nähen, mit dem Besen ein Zimmer sauber fegen, mit der entsprechenden Technologie die Kräfte der Elektrizität nutzbar machen, dem noch ungeformten Geist eines Kindes ein Schulfach beibringen, einem Ehepaar helfen, seine Beziehungsprobleme zu lösen oder aus Farbe, Holz oder Stein ein Kunstwerk schaffen – immer setzen wir Gottes Arbeit des Gestaltens, Füllens und Untertan-Machens fort. Jedes Mal, wenn wir Ordnung ins Chaos bringen, unser kreatives Potenzial einsetzen und ein Stück Schöpfung bearbeiten, prägen und „entfalten“, sodass es mehr wird als das, was wir angetroffen hatten, üben wir Gottes Methode der kreativen kulturellen Entwicklung. Unser Wort „Kultur“ kommt von dieser Idee des Kultivierens. So, wie Gott selber durch sein Werk der Schöpfung sich die Erde untertan machte, ruft er jetzt uns auf, als seine Stellvertreter dieses Werk des Untertan-Machens fortzuführen.
In der Redeemer Presbyterian Church versuchen wir, den Unternehmern unter uns, die mit ihren Ressourcen gerne etwas Neues, Innovatives schaffen möchten, den Rücken zu stärken. Einer von ihnen ist James Tufenkian, der 2008 auf unserem alljährlich stattfindenden Unternehmerforum sprach. Nach mehreren anderen geschäftlichen Unternehmungen fing James im Jahre 2005 mit der Herstellung und Vermarktung von Qualitätsmarmeladen an. Er hatte in Armenien gearbeitet, und die Armut und sinnlose Verschwendung, die er dort sah, gingen ihm an die Nieren. Es gab in Armenien große Obstplantagen mit wunderbaren Früchten, die in der Saison ihre Abnehmer fanden, aber große Mengen verdarben aufgrund der schlechten Transport- und Lagersituation. Zusammen mit einem Partner gründete James eine Konfitürenfabrik, um aus einem Saisongeschäft ein ganzjähriges Unternehmen zu machen. Heute werden die Harvest-Song-Konfitüren in aller Welt verkauft. Sie haben internationale Preise gewonnen; man schätzt sie wegen des Klimas, in dem die Früchte reifen, und der Art, wie sie verarbeitet werden. James sagt, dass für ihn eines der wichtigsten Dinge im Leben, die er aus seinem Glauben gelernt hat, darin besteht, „etwas zu schaffen, das schön und von bleibendem Wert ist.“52 Er erinnert sich noch gut an das Aha-Erlebnis, das er hatte, als er die Stelle im Schöpfungsbericht studierte, wo Gott die Erde gestaltet und füllt und dann sagt: „Es ist sehr gut.“ Voller Freude rief er aus: „Gott macht keinen Schrott! Und ich auch nicht!“ Ein biblisches Verständnis der Arbeit erweckt in uns den Wunsch, mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, etwas wirklich Wertvolles zu schaffen. Das Wissen um den Gott, der uns unsere Ressourcen gibt und uns das Vorrecht schenkt, seine Mitgestalter zu werden, lässt uns unsere Arbeit in einem unstillbaren Geist der Kreativität angehen.
Mark Noll schreibt in seinem Buch The Scandal of the Evangelical Mind:
Wer hat denn die Welt der Natur gemacht und später die Entwicklung von Wissenschaften ermöglicht, mit denen wir die Natur immer besser erforschen können? Wer hat das Universum der menschlichen Beziehungen erschaffen und damit das Rohmaterial für Politik, Wirtschaft, Soziologie und Geschichte? Wer ist die Quelle aller Harmonie, Form und Erzählstrukturen und liegt so hinter allen künstlerischen und literarischen Möglichkeiten? Wer hat den menschlichen Geist so gemacht, dass er die endlosen Realitäten der Natur, der menschlichen Interaktionen und der Schönheit erfassen kann, und damit die theoretische Durchdringung dieser Dinge durch die Philosophen und Psychologen ermöglicht? Wer erhält die Welt der Natur, der menschlichen Beziehungen und die Harmonie der existierenden Welt Augenblick um Augenblick? Wer erhält Augenblick um Augenblick die Verbindungen zwischen dem, was in unseren Gedanken ist, und dem, was in der Welt „draußen“ ist? Die Antwort ist in jedem Fall die gleiche: Gott. Er hat es damals getan, und er tut es heute weiter.53
Die Benennung der Tiere durch Adam in 1. Mose 2,19-20 ist eine Einladung, in Gottes Kreativität einzutreten. Warum hat Gott die Tiere nicht einfach selber benannt? Wenn er das Licht „Tag“ und die Dunkelheit „Nacht“ nennen konnte (V. 5), konnte er doch wohl auch den Tieren Namen geben. Doch er lädt uns ein, sein Werk der Entwicklung der Schöpfung selber weiterzuführen und das ganze Potenzial der menschlichen und physischen Natur aufzubieten, um eine Kultur zu schaffen, die ihn verherrlicht. Durch unsere Arbeit bringen wir Ordnung ins Chaos, schaffen Neues, bringen die Strukturen der Schöpfung zur vollen Entfaltung und bauen die menschliche Gesellschaft. Ob wir Gene verbinden oder eine Gehirnoperation machen oder den Müll abholen oder ein Bild malen, unsere Arbeit ist Aufbau, Erhaltung und Reparatur des Gefüges der Welt, und damit bekommt sie Anteil an Gottes Wirken.
Alle Arbeit ist kulturschaffend
Der Präsident des Fuller Seminary, Richard Mouw, sprach einmal vor einer Versammlung von Bankern in New York City. Er führte sie in das 1. Buch Mose und zeigte ihnen, dass Gott ein Schöpfer bzw. Investor ist, der die Welt als Bühne für alle möglichen Formen der Kreativität geschaffen hat. Mouw forderte seine Zuhörer auf, sich Gott als Investmentbanker vorzustellen, der unter Einsatz all seiner Mittel eine ganze neue Welt erschuf. Wenn wir im Geschäftsleben sehen, dass