Angela Autsch. Annemarie Regensburger

Angela Autsch - Annemarie Regensburger


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laufen ins Haus. Dort erwarten sie bereits Mutter und Vater.

      „Papa, musst du auch in den Krieg ziehen?“, fragt Marie ängstlich.

      „Ich nicht, aber euer Bruder August, denn er ist bereits 19 Jahre alt.“

      Die Mädchen beginnen zu schluchzen:

      „Aber warum, warum muss er in den Krieg, warum ist überhaupt jetzt Krieg?“

      „Das ist eine lange Geschichte“, antwortet der Vater. „Setzt euch nieder. Ich erzähle sie euch. Komm, Amalia, setz dich auch zu uns. Heute sind wir nicht mehr zum Arbeiten fähig. Heute hat uns die große Weltgeschichte eingeholt.“

      Soeben kommt mit fragendem Blick August bei der Tür herein. Als er erkennt, was los ist, bleibt ihm der Atem stehen:

      „Muss ich auch einrücken?“

      Alle nicken. August nimmt es gefasst. Unter den jungen Männern wurde ja schon längere Zeit über diese Möglichkeit diskutiert und wie die meisten jungen Leute ließ auch er sich von der allgemeinen Jubelstimmung mitreißen. Viele waren sowieso der Meinung, dass der Krieg in kürzester Zeit vorüber sein und Deutschland als Siegermacht hervorgehen würde.

      August tröstet deshalb seine Eltern und Geschwister und sagt:

      „Macht euch nicht zu viele Sorgen um mich. Wir werden den Krieg gewinnen. Ich gehe, wenn es möglich ist, zur Marine. Ich möchte nämlich aufs Meer hinausfahren. Ihr betet inzwischen für mich.“ Und mit einem Augenzwinkern zu Marie sagt er noch:

      „Vor allem du, Marie, du hast ja einen besonderen Draht nach oben.“

      Alle blicken zu Marie, deren Augen voll mit Tränen sind. Doch ein wenig haben sich inzwischen alle beruhigt und der Vater beginnt mit der Geschichte, die den Ersten Weltkrieg innerhalb von sechs Wochen ausgelöst hatte.

      „Am 28. Juni 1914 besuchte der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophie die bosnische Hauptstadt Sarajevo. Bosnien wurde 1908 von Österreich-Ungarn annektiert, was den Widerstand vor allem nationalistisch eingestellter Serben hervorrief. Ihr müsst euch vorstellen, dass bereits am Morgen, als das Thronfolgerpaar in einem offenen Wagen zum Rathaus gefahren ist, ein Bombenanschlag auf sie verübt wurde. Einige Menschen wurden dabei verletzt. Trotzdem fuhren sie im offenen Wagen weiter. Weder das Thronfolgerpaar noch die Eskorte nahmen die Gefahr ernst. Erzherzog Franz Ferdinand trug einen weißen, kaiserlichen Mantel, schräg über seiner Brust eine rotweißrote Schleife und auf seiner Mütze vermutlich einen grünen Federbusch. Seine Ehefrau Sophie trug ein rohweißes Spitzenkostüm und darüber einen lila Seidenmantel, ebenfalls mit Spitze besetzt. Ihr weitkrempiger Hut war auf ihre Kleidung abgestimmt.“

      „Wie schön muss sie gewesen sein!“, rufen die Mädchen wie aus einem Munde.

      „Ach ihr Mädchen, ihr seid so romantisch!“, meint August. „Ich muss jetzt zu meinen Kollegen gehen, damit wir ausmachen können, um welche Zeit wir uns morgen stellen sollen.“ Mit diesen Worten verlässt der Bruder die Küche.

      Die Mädchen sind wieder mit der Wirklichkeit konfrontiert, denn die bisherige Erzählung des Vaters kam ihnen wie ein Märchen vor.

      „Und dann“, sagt der Vater, „ein Schuss aus einer Pistole, dann ein zweiter. Zuerst wird Sophie getroffen. Franz Ferdinand fleht sie noch an, am Leben zu bleiben, da trifft ihn der zweite Schuss in den Hals. Nur wenig später sind der Erzherzog und seine Frau tot. Der Mörder war ein Bosnier mit serbischen Wurzeln, der sich als Kämpfer für die Vereinigung aller Serben sah. Die österreichisch-ungarische Führung unter Kaiser Franz Joseph glaubte nicht an die Tat eines Einzelnen. Sie hegte den Verdacht, dass Serbien dahinterstünde. Darum hat nun Österreich vor vier Tagen, am 28. Juli, Serbien den Krieg erklärt.“

      „Aber Papa, was hat das mit uns zu tun?“, fragt Marie. „Wir gehören doch nicht zu Österreich.“

      „Wisst ihr, unser Kaiser Wilhelm ist mit dem österreichischen Kaiser verbündet. Das heißt, dass sie beide zusammenhalten. Der russische Zar Nikolaus sieht sich als Schutzherr Serbiens. Frankreich und Großbritannien stehen wiederum auf Russlands Seite. Weil Deutschland zu Österreich hält, hat unser Kaiser Wilhelm heute Russland den Krieg erklärt.

      Jetzt ist es aber genug mit meinem Erzählen. Vielleicht könnt ihr nun begreifen, wie schnell Millionen von Menschen, ohne dass sie es wollen, in einen Krieg verwickelt werden.“

      Am nächsten Tag, Sonntag, der 2. August, als die Menschen auf dem Weg zur Kirche sind, befestigt der Ortsvorsteher von Bamenohl am schwarzen Brett den Befehl des Kaisers, in dem es heißt, dass alle wehrfähigen Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren einberufen werden.

      So viele Tränen sind bei einem Sonntagsgottesdienst schon lange nicht mehr geflossen. Vielerorts herrscht aber auch Begeisterung. Ein nationaler Überschwang, ja ein regelrechtes Glücksgefühl erfasst sehr viele Menschen im August bei Kriegsbeginn in Deutschland. Es wird als August-Erlebnis in die Geschichte eingehen.

      Obwohl Deutschland nicht angegriffen wurde, sehen viele Menschen den Krieg als gerecht, als einen Verteidigungskrieg an. Es wehen Fahnen, in den Gottesdiensten wird um den Beistand Gottes gebetet, die Menschen jubeln auf den Straßen ihren Soldaten zu, die lachend und winkend vorbeiziehen und in Bahnwaggons Richtung Front fahren. Auf den Waggons steht mit Kreide „Auf zum Preisschießen nach Paris“. Lange Zeit wurde von der Politik die Überzeugung genährt, dass man den Gegnern überlegen sei. Die Aufrüstung und der Aufbau der Marine erreichten ein gigantisches Ausmaß. Nationalismus und Militarismus werden hochgejubelt. Doch nicht nur Deutschland, auch fast alle anderen Staaten Europas hatten sich schon lange auf einen Krieg vorbereitet. Innerhalb von sechs Wochen ist Europa in einen Weltkrieg gestürzt.

      „August, ich habe dir deine Wäsche eingemerkt. Auf den Kleidungsstücken stehen mit rotem Kreuzstich die Anfangsbuchstaben deines Namens drauf.“ Amalia blickt ihren Sohn mit Tränen in den Augen an.

      „Mama, sei nicht traurig. Der Krieg ist bis Weihnachten sicher vorbei. Stell dir vor, ich werde bei der Marine genommen. Ich fahre wirklich in das weite Meer hinaus. Danke, dass du mir alles so schön gerichtet hast.“

      Schnell drückt August seiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange und läuft aus der Küche, damit sie seine Tränen nicht sieht.

      „August, komm am Abend pünktlich zurück. Wir kochen dir heute noch dein Lieblingsessen!“, ruft ihm die Mama noch nach.

      Gertrud und Amalia sind bereits in der Küche und sprechen über den beginnenden Krieg. Ein bisschen haben sie sich von Augusts hoffnungsvollem Optimismus, dass der Krieg bald vorbei sei, anstecken lassen. Doch die Traurigkeit liegt wie ein Schleier über der Küche.

      „Kommt zur Arbeit, Mädchen“, sagt die Mama etwas zu burschikos. Sie will sich ihre Trauer nicht anmerken lassen. Marie jedoch spürt sofort ihren Schmerz und sagt:

      „Mama, wir kochen und weinen jetzt zusammen. Dann wird uns allen leichter ums Herz.“

      Der Mama huscht ein Lächeln über die Lippen und sie streicht Marie sanft über ihre Haare. Dann geht es an die Arbeit. Heute soll es ein Festessen werden: Grießnockerlsuppe, sauerländischer Sauerbraten, eingebranntes Weißkraut und die typischen Kartoffelklöße aus dieser Gegend. Für den Nachtisch schickt die Mama Amalia und Marie in den Garten, um alle Beeren, die sie finden, zu pflücken. Vor allem die Brombeeren sind nun reif.

      Als die Mädchen allein im Garten sind, fragt Amalia ihre Schwester Marie:

      „Hast du auch um August Angst?“

      „Ich vertraue darauf, dass die Muttergottes ihn beschützt. Weißt du, wir beten einfach jeden Tag vor dem Schlafengehen in unserer Kammer noch einen Rosenkranz für ihn. Gertrude macht sicher auch mit.“

      Während sich die Mädchen beim Pflücken auch ab und zu eine süße Beere in den Mund stecken, werden sie ruhiger.

      In der Küche dampft es inzwischen aus allen Töpfen. Der Tisch wird gedeckt. Amalia holt noch schnell die ersten blühenden Dahlien vom Garten. Die Mama hat vom Sonntag noch ein wenig Rahm übrig. Marie schlägt


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