Hallo Amerika!. Livia Bitton-Jackson

Hallo Amerika! - Livia Bitton-Jackson


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mache. Als ich aufgewacht bin, war es zu spät. Da wollte ich nicht mehr stören, so beschäftigt, wie du warst.«

      Mir fiel ein anderer verpasster Abschied ein, eine andere Auseinandersetzung mit Mami, und ich spürte, wie es mir erneut das Herz brach.

       Es ist Frühlingsanfang. Ich stehe barfuß und im Nachthemd in der morgendlichen Kälte … in der Ferne höre ich das Klappern von Pferdehufen und das Rumpeln der Karren. Der letzte ist noch schwach zu erkennen, und im aufgewirbelten Staub der Landstraße kann ich Papas Umriss neben dem der anderen Männer ausmachen. Ohnmächtig meiner verheerenden Trauer ausgeliefert, kreische ich: »Mami! Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du mich um diesen Abschied bringen? Warum hast du mich nicht wie versprochen aufgeweckt?«

      Seither waren Jahre vergangen, aber diesen Schmerzensschrei hatte ich immer noch im Gedächtnis.

      Das Schiff erreichte langsam die offene See, und die Küste verschwand am Horizont. Captain McGregor war nicht mehr an Deck. Ich ging hinunter, um auf dem Mannschaftsdeck und in der Offiziersmesse nach ihm zu suchen. Vielleicht hatte er ja eine Aufgabe für mich. Ich brauchte eine Beschäftigung. Man hatte mir gesagt, das sei das beste Mittel gegen die Seekrankheit. Gleichzeitig ist es auch das beste Mittel gegen Kummer.

      Der Kapitän schüttelt meiner Mutter die Hand.

      »Gott segne Sie, Ma’am. Sie haben eine wunderbare Tochter.« Dann dreht er sich zu mir und zwinkert mir zu. »Übersetzen Sie das bitte?«

      Zwei junge Offiziere helfen uns mit den Koffern, und wir folgen ihnen den Landesteg hinunter.

      Ganz unerwartet sind wir plötzlich von karnevalsartigem Gedränge umgeben. Bunte Fahnen und Banner mit fetter Aufschrift – NYANA, HIAS, NIMBUS, AMERICO-ITALIA – werden von Vertretern diverser Hilfsorganisationen hochgehalten. Pfiffe, Rufe und freudige Schreie des Wiedererkennens erfüllen die Luft. Immer mehr Leute drängen von hinten heran und bahnen sich energisch den Weg zu den Bannern, die dem jeweiligen Etikett im Knopfloch entsprechen. Laute Abschiedsrufe, eifriges Winken, tränenreiche Versprechen, in Kontakt zu bleiben – die letzten Zuckungen der Freundschaften und Romanzen, die während der Überfahrt entstanden sind.

      Wie betäubt, und stets auch für meine Mutter Platz machend, schiebe ich mich vorwärts auf eine Gruppe zu, die beim Banner unserer Hilfsorganisation HIAS steht.

      »Was heißt eigentlich HIAS?«, ruft es hinter mir, und ich antworte, ohne erst zu prüfen, wer das wissen will.

      »Es steht für Hebrew Immigrant Aid Society.«

      Jetzt erst erkenne ich meinen jugoslawischen Held, den jungen Stanko Vranich. Er trägt ein Etikett mit der Aufschrift NYANA.

      »Ach, Sie sind das! Sie gehören zu NYANA? Wofür steht das denn?«

      »New York Association for New Americans. Sehen Sie das Schild ganz hinten rechts? Dort muss ich hin.« Ich recke den Hals, kann es aber in diesem Meer von Leuten nicht entdecken. »Ich wollte mich nur verabschieden, Miss Friedman. Und Ihnen alles Gute wünschen.«

      Ich bin überrascht über Stankos festen Händedruck. Er passt irgendwie nicht zu diesem sanftmütigen Übersetzer.

      »Danke, Herr Vranich.« Ich erwidere sein Lächeln. »Hoffentlich klappt alles, was Sie sich vorgenommen haben.« In den letzten beiden Tagen haben Stanko und ich entdeckt, dass wir die gleichen Ziele und Träume haben. »Hoffentlich gehen all Ihre Träume in Erfüllung.«

      »Und Ihre auch!« Stankos Blick verdüstert sich, und mit trauriger Stimme sagt er: »Wenn ich mich rechtzeitig bei HIAS beworben hätte, dann könnten wir jetzt gemeinsam von hier weggehen. Aber ich habe von HIAS erst erfahren, als mir NYANA bereits zugesagt hatte.«

      HIAS? Stanko ist Jude? Warum hat er das nicht erwähnt? Er stellt sein Gepäck ab und streckt beide Arme aus, um meine Hand fest zu umfassen. »Aber damals kannte ich ja auch Sie noch nicht, Miss Friedman. Ich wünsche Ihnen, dass Sie in Amerika glücklich werden.«

      »Auch Ihnen alles Gute«, sage ich so ernst wie aufrichtig. Stanko senkt den Kopf, nimmt sein Gepäck und geht zielstrebig in Richtung des NYANA-Banners. Keine Sekunde später dreht er sich noch einmal um und ruft laut: »Ich werde mich bei der HIAS nach Ihrem Verbleib erkundigen. Sie haben doch nichts dagegen, oder?«

      Ich schüttle den Kopf. Nein, ich habe nichts dagegen. Ganz im Gegenteil. Ich hoffe sehr, dass er es tut. Ich würde Stanko gern wiedersehen.

      Mutter und ich warten am Stand eines geschäftigen HIAS- Mitarbeiters, der Namen aufnimmt und Lebensdaten notiert, während um uns herum zahllose Schiffsbekanntschaften den letzten Händedruck und letzte Abschiedsgrüße tauschen.

      Plötzlich entdecke ich in diesem bunten Kaleidoskop an Gesichtern ein Lächeln, und mein Herz macht einen Sprung. Gleich ist das Lächeln wieder verschwunden, nur sehe ich es immer noch vor mir – und eingebildet habe ich es mir sicher nicht. Vor einer Sekunde war es noch da.

      »Mami, ich habe Bubi gesehen! Er muss hier irgendwo in der Menge sein.«

      »Bubi? Was redest du da? Schluss mit dem Fantasieren, Elli. Du weißt, dass dein Bruder nicht hier sein kann. Heute ist Sabbat. Wie sollte er herkommen? In New York sind die Entfernungen groß. Man kann nicht einfach zu Fuß zum Kai gehen. Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht verrückt machen. Bleib ruhig und gedulde dich. Du triffst ihn heute Abend, wenn der Sabbat vorbei ist. Oder eben morgen.«

      Der Blick, den ich auf das Gesicht meines Bruders erhascht habe, löscht alles andere aus. Um mich her verschwimmen die Dinge: die Menschenmenge, der HIAS-Mitarbeiter, die abwandernden Passagiere. Nur das Lächeln meines Bruders sehe ich klar und deutlich vor mir. Es war da. Das weiß ich. Ich muss es finden.

      Auch wenn meine Mutter sagt, ich würde spinnen, bahne ich mir einen Weg durch die Menge … hin zu der Stelle, wo das Lächeln war. Da ist er! Groß, gut aussehend – verändert. Er sieht aus wie ein richtiger Amerikaner, mit grauem Mantel und breitkrempigem Hut.

      »Bubi! Bubi!«

      Bei unserer Umarmung lösen sich die vier Jahre der Trennung in Luft auf. Vier Jahre des Wartens, der Bemühung und der Sorge sind schlagartig vorbei. Lieber Gott, ich danke dir!

      »Ellis? Bist du das? Ich erkenne dich gar nicht wieder. Du bist groß geworden … ganz verändert. Wo ist Mami?«

      »Dort drüben. Im dunkelblauen Mantel. Siehst du sie? Komm, ich bringe dich hin. Sie wird ihren Augen nicht trauen.«

      Ich nehme Bubis Hand und ziehe ihn durch die Menge zu der Stelle, wo Mami mit dem Rücken zu uns steht. Als Bubi sie erreicht, sieht sie ihn mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an.

      »Da ist er, Mami.«

      »Bubi?!«

      Mami zieht uns beide an sich, umarmt uns und drückt immer fester zu, und alle drei wiegen wir uns in einem Tanz der Wiedergeburt hin und her. Wie Reben, die an einem Weinstock baumeln – einem Weinstock, der in frischer Erde eingepflanzt ist.

      Mein erster Tag in Amerika

      »Oh Papa! Papa!«, kreische ich und werfe die Arme um den scheuen, fremden Mann, dessen Gesicht sich jetzt aus der Menge schält. Er hat hohe Wangenknochen, einen markanten Kiefer, haselnussbraune Augen. Er ist groß und schlank und hat breite Schultern. »Papa!« Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Wie sehr mir diese hohen Wangenknochen, der markante Kiefer, die haselnussbraunen Augen fehlen! Wie sehr ich diese breiten, athletischen Schultern vermisse! Oh, Papa! Ich kann immer noch nicht glauben, dass du niemals mehr aus dem Dunst auftauchen wirst, in dem du ohne Abschied verschwunden bist. Ich kann nicht glauben, dass du für immer von uns gegangen bist. Für mich wird deine Rückkehr auf ewig ein Wunschtraum bleiben.

      Mein Ausbruch erschreckt alle um mich herum, und ganz besonders den großen, schlanken Mann mit den haselnussbraunen Augen. Es ist Papas Bruder, der meine Umarmung über sich ergehen lässt und sich dann mit einem verlegenen Hüsteln hinter eine äußerst imposante Frau stellt. Das muss Tante Lilly sein, die Frau meines Onkels. Sie


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