Inkompetenzkompensationskompetenz. Ralf Lisch

Inkompetenzkompensationskompetenz - Ralf Lisch


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Manager aussagen sollte. Bei den Kästchen mit den sonderbaren Symbolen wurde es schon etwas schwieriger, denn die Uhr tickte erbarmungslos. Aber dann kamen Fragen zur Persönlichkeit. Da galt es aufzupassen, dass man nicht in eine Falle tappte.

      Meine Arbeit befriedigt mich, stand da zum Beispiel und ließ nur ein Ja oder Nein zu. Da gerieten einige Kandidaten ins Grübeln. Einerseits waren sie keineswegs unzufrieden mit ihrer Arbeit. Andererseits waren sie hier, weil sie mehr wollten als ihre bisherige Arbeit. Jaaber hätte gepasst, doch das war nicht vorgesehen. Auf einem Blatt Papier hätten sie so etwas wie falsche Fragestellung oder gar Quatsch an den Rand schreiben können und dahinter vielleicht ein Ausrufezeichen gesetzt. Aber sie saßen am Computer. Da konnten sie nichts an den Rand schreiben. Und zur nächsten Frage kam man auch nur, wenn diese beantwortet war. Vielleicht ging es ja gar nicht darum, ob man mit seiner Arbeit zufrieden war. Vielleicht ging es ja nur darum, wie man mit Stress umging. Warum starrten einen die Beobachter ständig an? Was notierten sie?

      Jetzt nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Vielleicht ließ sich eine Gesetzmäßigkeit erkennen. Die letzten drei Fragen hatten alle ein Ja erfordert. Da würde etwas Abwechslung guttun. Also Nein anklicken und weiter zur nächsten Frage. Manche Dinge im Leben kann ich nicht ernst nehmen, stand da. Das war leichter zu beantworten. Da würde man ein Ja anklicken.

      Immerhin, nach einer halben Stunde war auch dieser Teil des Assessment Centers geschafft. Und als es nach einer kurzen Kaffeepause weiterging, da kam sie dann doch noch, die von allen Kandidaten mit Spannung erwartete Postkorbübung. Darüber hatten sie viel gelesen. Dass es eine Stresssituation sei und man das ja gar nicht alles schaffen könne, was da von einem erwartet würde. Deshalb ginge es darum, die richtigen Prioritäten zu setzen. Denn das würde von jedem Manager erwartet, dass er auch unter Stress immer die richtigen Prioritäten setze und sich auf keinen Fall in Kleinigkeiten verlöre. Nein, im Management kam es auf die große Linie an. Das war jedem Kandidaten klar.

      Alles würde vollautomatisch bis hin zur Auswertung am Computer ablaufen, erläuterte Frau Kluge. Da sei für jeden Kandidaten ein prall gefülltes Postfach eingerichtet, das sie abarbeiten müssten. Außerdem habe jeder einen Terminkalender. Und während sie sich noch mit all den Mails beschäftigten und die nötigen Entscheidungen trafen, was denn nun zu tun sei, würden immer wieder neue Mails eintreffen. Das sei wie im richtigen Leben eines Managers. Denn da würden auch Entscheidungsfreude und Flexibilität verlangt. Das könne sich wahrscheinlich jeder gut vorstellen. Daran würde übrigens auch die Sekretärin nichts ändern. Denn die ginge ja manchmal auf Urlaub, und außerdem müsse man der als Manager natürlich sagen, worauf es ankommt. Denn die Verantwortung, die man als Manager habe, könne man nicht einfach delegieren. Eine Stunde Zeit habe jeder zur Verfügung. Rückfragen seien nicht gestattet. Ja, Manager sind einsam, wenn es um Entscheidungen geht. Das würden sie bei dieser Übung schon einmal erleben.

      Zu jedem Vorgang müsse entschieden werden, wie wichtig und dringend er sei. Ob man ihn selbst erledigen müsse oder delegieren könne und wann er erledigt werden müsse. Oder ob man ihn vielleicht in den Papierkorb werfen könne. Eisenhower-Prinzip, rief einer der Kandidaten dazwischen und hoffte, dafür bei den Beobachtern einen Pluspunkt zu bekommen. Ja, so habe Eisenhower alle Aufgaben in Kategorien eingeteilt. Der Mann war immerhin General und Präsident der Vereinigten Staaten gewesen. Den anderen Teilnehmern kam da allerdings eher in den Sinn, dass man seine Arbeit vielleicht so organisieren sollte, dass man gar nicht erst unter derartigen Druck geriete. Doch das war bei der Postkorbübung nicht vorgesehen. Nun ja, man würde auch diese letzte Aufgabe noch irgendwie überstehen. Danach wäre es ja geschafft und man würde von den Beobachtern hören, wie es gelaufen sei. Die Kandidaten waren da allerdings nicht übermäßig optimistisch. Aber nun erst einmal gucken, was da im Postkorb auf einen wartete. Frau Kluge drückte auf die Stoppuhr.

      Am besten würde man alles durchsehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. So hatte es in den Ratgebern gestanden, die die Kandidaten im Vorfeld konsultiert hatten. Dabei könnte alles schon einmal nach Prioritäten sortiert werden. Der Boss bittet um eine Besprechung, stand gleich in der ersten Mail. Das war einfach, denn das war natürlich höchste Dringlichkeitsstufe. Aber wieso bittet er? Sonst nannte er doch einfach einen Termin und dann konnte man zusehen, wie man damit zurechtkam. Auf jeden Fall handelte es sich hier um Kategorie 1 – dringend und selbst zu erledigen.

      Auch ein Mitarbeiter bat um ein Gespräch. Der würde sich allerdings etwas gedulden müssen. Oder sollte man es vielleicht besser delegieren? Man konnte sich ja nicht zerreißen. Eine Mail von der Tochter. Sie schrieb, sie habe ihr Handy in der Disco verloren und brauche Geld für ein neues. Das hatte leider eine gewisse Dringlichkeit. Es war ja bekannt, wie zickig sie sein konnte. Aber wie oft sollte man ihr noch sagen, dass sie nicht an die Firmenadresse schreiben sollte? Warum kümmerte sich ihre Mutter nicht mal darum? Aber von der war da ja auch eine Mail im Postfach. Sie schrieb etwas von einem Termin beim Anwalt. Sie würde ihm das per Mail an die Unternehmensadresse mitteilen, weil er ja ohnehin nichts als seine Arbeit im Kopf habe. Näheres würde er dann von dem Anwalt hören. In welche Kategorie das wohl am besten einzuordnen wäre? Papierkorb vielleicht?

      Ein Lieferant lud zu einem Golfturnier ein. Da musste man hin. Das konnte man auf keinen Fall delegieren. Aber warum schickte der die Einladung nicht früher? Der Steuerberater verwies auf eine Frist, die unbedingt zu beachten sei. Die neue Kollegin wollte ihren Einstand geben und fragte, welcher Termin dafür geeignet sei. Da sollte man vielleicht mal hingehen, nachdem die eigene Frau Post vom Anwalt angekündigt hatte. Darüber würde man noch einmal nachdenken. KIV – keep in view. Die Verabschiedung von dem Meier könnte hingegen delegiert werden. Da musste eine Rede gehalten werden, denn der ging in Rente. Außerdem bat die Entwicklungsabteilung um einen Termin für eine Präsentation des gerade fertiggestellten Prototyps. Und ganz nebenbei gingen mit einem hellen Klingelton immer wieder neue Mails ein. Herrschaftszeiten, was waren das für Manager, bei denen es so zuging?

      Da musste man durch. Rückfragen und Kommentare waren bei dieser Übung nicht vorgesehen. Einige Kandidaten zeigten deutliche Stressreaktionen, während sie Prioritäten vergaben, Entscheidungskategorien anklickten, Unwichtiges delegierten und Wichtiges organisierten und terminierten. Manchmal lief es auch umgekehrt. Schließlich war jeder froh, als die Stunde endlich vorüber war.

      Es war ein langer Tag gewesen und nicht nur die Teilnehmer, auch die Beobachter waren sichtlich müde und erschöpft. Die Kandidaten fragten sich insgeheim, ob es im Management wohl immer so stressig sei wie im Assessment Center. Und die Beobachter bereuten ein wenig, dass sie sich bereit erklärt hatten, diese Rolle zu übernehmen. In ihrem Büro ging es eben doch weitaus ruhiger und entspannter zu. Zum Glück erfolgte die Auswertung der Postkorbübung vollautomatisch. Das war der Vorteil eines Computers. Schnell und objektiv lag das Ergebnis vor. Doch bevor man sich einen Drink zur Entspannung gönnen würde, standen noch die internen Beratungen an und danach würde man Abschlussgespräche mit den Kandidaten führen müssen.

      Die Beobachter einigten sich schnell auf die abschließenden Beurteilungen. Wo der Computer noch Interpretationsspielräume ließ, da halfen eigene Einschätzungen weiter. Zufrieden stellten alle fest, dass das Assessment Center die persönlichen Eindrücke, die sie schon lange hatten, eindrucksvoll bestätigte. Aber nun war diese Einschätzung natürlich weitaus systematischer und objektiver. Ja, die Beobachter waren geneigt festzustellen, dass ihre Beurteilungen nun wissenschaftlich abgesichert seien. Zumindest quasi-wissenschaftlich. Deshalb seien Assessment Center so erfolgreich, sagte Frau Kluge und die anderen nickten zustimmend. Es sei natürlich auch mit etwas mehr Aufwand verbunden, aber das Ergebnis würde das allemal rechtfertigen.

      So ging es an die Einzelgespräche, in denen die Kandidaten einer nach dem anderen hören würden, wie sie im Assessment Center abgeschnitten hatten und was die Beobachter über ihre weitere Karriere zu sagen hatten.

      Mal klang es hoffnungsvoll, mal eher zurückhaltend. Weichen wurden gestellt. Karrieren nahmen Wendungen. Und während sich die einen bestätigt fühlten und hoffnungsvoll in die Zukunft blickten, weil eine Beförderung nun wohl nur noch eine Frage von Tagen oder höchstens Wochen sein würde, waren auch einige Enttäuschungen unvermeidlich. Doch Frau Kluge machte den erfolglosen Kandidaten Mut. In ein, zwei Jahren hätten sie sicherlich noch einmal eine Chance. Nach den positiven Erfahrungen gäbe es nun häufiger ein Assessment Center.


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