Elfenzeit 2: Schattendrache. Verena Themsen
weiß nicht. Es dauert nicht mehr lang, glaube ich. Aber du kannst dich ja ein wenig im Zug umsehen, dann kann ich hier wenigstens in Ruhe lesen. Die Leute da drin tun gerade wieder so seltsame Dinge. Ich möchte wissen, wie dieser Teil zu Ende geht, ehe wir ankommen.« Rian kicherte leise, während Pirx und Grog einander verständnislos ansahen.
»Ich geh!«, rief Pirx und ließ sich mit einer Vorwärtsrolle aus der Gepäckablage direkt auf Grogs Schoß fallen. Dieser schrie auf, als Pirx’ Rückenstacheln in seine Beine stachen, und hastig sprang der kleine Pixie wieder hoch, riss die Abteiltür auf und rannte unter schrillem Lachen hinaus in den Gang. Grog stieß ein tiefes Grollen aus, warf ihm die rote Mütze hinterher und schob dann die Abteiltür wieder zu.
»Ich sollte ihm öfter seinen Stofffetzen in den Hals stopfen«, brummte er, ehe er sich wieder auf dem Sitz einrollte und erneut sein leises Schnarchen erklingen ließ.
David schüttelte ohne aufzusehen den Kopf. Rian sah wieder auf ihr Buch und fuhr fort, die komplizierte Welt der sterblichen Liebe zu erkunden, während der Zug in die Vororte der Stadt hinausrollte.
Leise summend schlenderte Pirx den Gang entlang und blieb nur ab und zu stehen, um besonders interessante Leute oder Dinge zu betrachten. Es juckte ihn in den Fingern, die Menschen ein wenig zu foppen, doch er wusste, dass Rian und David nicht begeistert sein würden. Das Gebot Fanmórs, dass keine Menschen durch Elfen zu Schaden kommen durften, stand in seinen Augen kleinen harmlosen Streichen zwar nicht im Weg, doch die Zwillinge wollten nicht, dass er durch sein Verhalten irgendwelche Aufmerksamkeit auf sie lenkte.
Er betrat den dritten Wagen und begann, auf und ab zu springen, um zu sehen, wer in den Abteilen saß. Zugleich schnitt er den Leuten unsichtbare Grimassen. Plötzlich ging weiter vorn Radau los.
»Oh je, hoffentlich nichts, von dem sie nachher denken, ich wär’s gewesen«, flüsterte Pirx. »Aber nachschauen schadet nix, und vielleicht kann ich ja doch ein wenig Spaß haben, ohne dass es auffällt!«
Schnell huschte er den Gang weiter um herauszufinden, was geschehen war. Als er den Großraumbereich des Waggons erreichte, sah er in der Mitte einen aufgesprungenen Koffer wie ein Dach über einem Haufen Kleidung stehen. Ein Mann im Sitz daneben hielt stöhnend eine Hand an die Stirn gepresst, und einige Reisende standen besorgt um ihn herum.
»Wie kann so was nur passieren?«, schimpfte eine Frau. »Sie müssten diese Ablagen besser sichern!«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Pirx achtete nicht weiter auf die Leute, denn er hatte einen ihm bekannt vorkommenden Schatten bemerkt, der in die andere Richtung davonhuschte. Mit einem Sprung tauchte der Pixie in den Kleiderhaufen und starrte zwischen den Beinen der Leute hindurch den Gang hinunter zum Ende des Wagens. Dort stand, nur für ihn sichtbar, ein spindeldürrer Zwerg mit spitzem Gesicht und hochaufragenden Ohren und amüsierte sich offensichtlich köstlich über die Aufregung, die zweifelsohne er verursacht hatte.
»Der Kau!«, flüsterte Pirx und rutschte tiefer zwischen die Kleidungsstücke, um ja nicht von dem anderen entdeckt zu werden. »Was macht denn dieser Giftzwerg hier?«
Während Pirx ihn beobachtete, drückte der Kau die Tür zum nächsten Waggon auf und schlüpfte hindurch, sobald der Schlitz groß genug war. Als er sicher war, dass der andere ihn nicht mehr würde sehen können, verließ Pirx sein Versteck und folgte ihm.
Im nächsten Waggon stand der Kau mitten im Gang und sah suchend um sich, wohl auf Ausschau nach neuen Möglichkeiten für böse Streiche. Pirx wich zur Seite, ehe der andere ihn sehen konnte, und legte sich auf den Boden, um seinen Gegner unter der Sitzbank hervor im Auge zu behalten.
Die Schaffnerin kam, und Pirx beobachtete, wie sich das Gesicht des Kaus bei ihrem Anblick zu einem breiten Grinsen verzog. Er heckte offensichtlich wieder etwas aus. Pirx war fest entschlossen, das zu verhindern.
Schnell sah sich der Pixie um, und sein Blick blieb an einem schlafenden Hund fünf Reihen weiter vorn hängen. Es war einer von der kleinen langhaarigen Sorte, die meist durch giftiges Bellen auffielen, mit denen Pirx aber im Allgemeinen schnell Freundschaft schloss. Geschickt robbte er unter den Sitzen hindurch vorwärts zu dem Hund. Nachdem er um einige Füße und Taschen herumgekrochen war, erreichte Pirx sein Ziel und stupste den Hund vorsichtig an, um ihn zu wecken. Das Köpfchen des Tieres ruckte hoch, und er richtete verschlafene schwarze Knopfaugen auf den Pixie. Im nächsten Augenblick begann der kurze Schwanz des Tieres zu wackeln, und eine kleine rote Zunge fuhr über das Gesicht des Pixies.
»Bah!« machte Pirx leise, wischte sein Gesicht ab und gab dem Hündchen einen sanften Nasenstüber, ehe er näher zu ihm hinkroch, um ihm seinen Plan ins aufgestellte Ohr zu flüstern. Der Hund gab ein kurzes Bellen von sich, als Pirx fertig war.
»Ruhig, Bella«, kam eine Frauenstimme von oben.
Pirx zwinkerte dem Hund zu und löste die Leine von seinem Halsband. Dann spähte er wieder unter der Sitzbank hindurch zum Gang.
Die Schaffnerin war inzwischen auf Höhe des Kaus angekommen, und Pirx sah, wie dieser in aller Seelenruhe im Schutz der Unsichtbarkeit ein Bein ausstreckte. Gleichzeitig griff er nach dem elektronischen Gerät, das die Frau an einem Schulterband umgehängt trug. Mit einem Ruck zog der Kau die Frau daran nach vorn. Sie stolperte über sein Bein, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem überraschten Ausruf auf Knie und Hände. Erstaunte und besorgte Stimmen wurden laut, und ein Mann in der Sitzreihe gegenüber von Pirx stand auf, um der Schaffnerin aufzuhelfen. Gleichzeitig trat der Kau neben sie und streckte seine Hand in Richtung ihrer Mütze aus.
»Los, Bella!«, flüsterte Pirx.
Sofort schoss die Hündin unter der Bank hervor und versenkte mit einem Knurren ihre Zähne tief in der linken Wade des Kaus. Der Zwerg schrie auf und machte einen Satz, der so hoch war, dass er ihn aus Pirx’ Sichtbereich brachte. Doch Bella war unerbittlich und hing wie eine Klette an ihrem Opfer.
Tobend und fluchend begann der Kau einen seltsamen Tanz den Gang entlang, das eine Bein immer wieder hebend und kräftig schüttelnd. Ringsherum sprangen die Leute auf und drängten nach vorn, um den für ihre Augen wild in der Luft herumtanzenden Hund zu begaffen. Überdeckt wurde dies von den hysterischen Schreien der Hundebesitzerin und den Aufforderungen der Schaffnerin, sich wieder zu setzen und den »gottverdammten Hund« zur Ruhe zu bringen.
Pirx grinste und rieb sich die Hände, ehe er sich vorsichtig an den Rückzug unter den Bänken hindurch machte.
»Der Kau?« Erschrocken ließ Rian das Buch zuklappen und starrte erst Pirx und dann ihren Bruder an. »Wenn der Kau hier ist …«
»… ist Bandorchus Getreuer vermutlich auch nicht weit«, ergänzte David ihren Satz. Sein angespannter Gesichtsausdruck zeigte, dass die Nachricht ihn beunruhigte. Zu frisch waren die Erinnerungen an das, was Rian in Paris zugestoßen war, als sie in die Hände des Getreuen und seiner Helfer gefallen war. Einen Moment herrschte Schweigen, in dem die Angst fast spürbar zwischen ihnen schwebte, während die Geschwister sich ansahen.
Grogs Schnarchen brach unvermittelt ab. Er schloss den Mund, rollte herum und öffnete blinzelnd ein Auge. »Niemals kann man schlafen, ohne dass irgendwelche Ruhestörer dazwischen kommen«, brummte er und setzte sich auf. Die Zwillinge schauten zu Grog, und es war, als hätten seine Worte einen Bann durchbrochen, der ihre Gedanken gelähmt hatte.
»Der Kau ist im Zug«, sagte Rian leise.
»Der Kau, hm? Hrrm. Ruhestörer, sag ich doch.« Grog rubbelte sein Gesicht und kratzte sich dann ausgiebig und genüsslich den Bauch.
David strich eine Haarsträhne zurück und sah wieder zu Rian. »Wenn der Getreue und seine Helfer hier sind, kann das zweierlei bedeuten: Entweder er ist uns gefolgt, oder aber er hat einen ähnlichen Hinweis bekommen wie wir, und das Zusammentreffen ist nur Zufall.«
»Wäre ihm bewusst, dass wir hier sind, hätte er den Kau nicht frei herumlaufen lassen«, stellte Rian fest.
David nickte. »Aber spätestens, wenn wir in Worms aussteigen, wird er uns bemerken. Und wenn ich jemanden nicht an meinen Fersen haben will, dann ihn.«
»Aber was können wir dagegen tun?«