Elfenzeit 2: Schattendrache. Verena Themsen
Blick folgte Davids Hand und fiel auf die Notbremse. Sie runzelte die Stirn.
»Aber wird er nicht erst recht aufmerksam werden, wenn der Zug plötzlich auf freier Strecke hält?«
»Warum sollte er? Er wird so wenig Erfahrung mit der Menschenwelt haben wie wir, und was wissen wir schon, warum Züge gelegentlich außerhalb der Station halten?«
Pirx sprang auf die Sitzbank neben Rian und hob eine Hand. »Ich könnte dem Zugführer vorgaukeln, dass etwas auf die Schienen springt«, erbot er sich. »Es gibt dann bestimmt eine Durchsage oder so, die allen sagt sie sollen ruhig bleiben und all das.«
David hob eine Augenbraue, und Rian lächelte den Pirx an. »Das klingt nach einer guten Idee. Was meinst du, David?«
Rians Zwillingsbruder nickte zögernd. »In Ordnung.«
Mit lautem Kreischen von Metall auf Metall kam der Zug wenige Minuten später zwischen einigen Feldern auf der einen Seite sowie Wiesen und einer Schrebergartensiedlung auf der anderen ruckelnd zum Stillstand. Die Geschwister und Grog standen an der Ausgangstür ihres Wagens bereit. Unruhig sah Rian durch die Scheibe auf die Schrebergärten hinaus.
»Sollten wir nicht sofort aussteigen?«, sagte sie leise, damit die Fahrgäste der angrenzenden Abteile sie nicht hören konnten. »Wer weiß, ob es wirklich eine Durchsage geben wird.«
»Wir warten noch, bis Pirx zurück ist«, antwortete David bestimmt. »Notfalls können wir rausspringen, wenn der Zug wieder anfährt. Er wird ja nicht gleich zur Höchstgeschwindigkeit übergehen.«
In diesem Moment knackte es im Lautsprecher.
»Sehr geehrte Fahrgäste«, hörten sie eine unpersönliche Frauenstimme sagen, »der Zug musste aufgrund eines Hindernisses auf der Strecke anhalten. Wir werden die Fahrt in wenigen Minuten wieder fortsetzen. Bitte gedulden Sie sich so lange.«
Rian atmete erleichtert auf, als Pirx verschmitzt grinsend bei ihnen eintraf. Ohne zu Zögern stieß David den Notgriff der Tür herunter und drückte sie gemeinsam mit Grog auf. Geduckt sprangen die vier Elfenwesen hinaus, rannten den Zug entlang nach hinten und versteckten sich zwischen ein paar niedrigen Büschen, die eine Wiese begrenzten. Während vorn an der Lok zwei Bahnangestellte in Regenponchos ausstiegen und den Zug zu inspizieren begannen, rückten die Elfen längs des Wiesenrandes vorsichtig in Richtung der Schrebergärten vor, immer auf Deckung gegen den Zug bedacht. Als sie die ersten Hütten erreichten, verschwanden sie zwischen den Hecken und niedrigen Büschen der Gärten und kamen nun zügiger voran. Ihr Weg führte weg vom Bahndamm mit dem noch immer stehenden Zug und ihren Feinden darin. Schließlich erreichten sie das andere Ende der Siedlung. In diesem Moment hörten sie, wie die Bahn wieder anfuhr.
»So, das war das«, meinte David. Er wischte Regenwasser von seinem Gesicht. »Bleibt nur die Frage, wie wir jetzt rechtzeitig unser Ziel erreichen sollen, um vor dem Getreuen den Brunnen zu finden.«
»Wir werden nicht lange nach ihm in der Stadt ankommen«, meinte Rian. Sie machte eine Kopfbewegung zu einer nahegelegenen Koppel hin, auf der einige Pferde dicht zusammengedrängt unter einem schützenden Baum standen. »Wir hatten bereits den größten Teil der Fahrt hinter uns, und mit Hilfe von denen schaffen wir es in kurzer Zeit nach Worms.«
David sah zu den Tieren und runzelte die Stirn. »Es sind Menschenpferde, dumm und blind wie die Menschen selbst«, meinte er.
»Dann beschaff du uns doch einige Pferde von zu Hause, oder noch besser, einen Pegasus«, erwiderte Rian spitz. »Die Olympier überlassen dir bestimmt gern einen oder zwei.«
David hob die Hände und verdrehte die Augen. »Ist ja gut. Sie sind besser als nichts.«
Rian stand auf und ging auf die Koppel zu. Die anderen folgten ihr.
Rings um die Weide waren auf zwei verschiedenen Höhen weiße Bänder gespannt. Pirx schnaubte.
»Wie sollen diese dünnen Fädchen die Pferde aufhalten?«, fragte er.
Er streckte eine Hand aus, um an dem unteren Band zu zupfen, und sprang dann mit einem Aufschrei zurück. Rian lachte glockenhell auf, während der Pixie seine Hand ausschüttelte und leise quietschte.
»Es scheint, da steckt doch etwas mehr dahinter als nur ein Faden, hm?«, sagte die Elfe und ließ ihre eigene Hand dicht über dem oberen Band verharren. »Elektrizität«, stellte sie fest. »Du hast einen elektrischen Schlag bekommen. Nicht gefährlich, aber unangenehm genug, um Pferde oder Pixies fernzuhalten.«
»Und wie bekommen wir die Pferde da raus?«, fragte David.
Ohne ein Wort packte Grog einen Pfosten, zog ihn aus dem Boden und legte ihn dann ab, sodass er an den Bändern hing. Dann ging er zum nächsten und wiederholte das Vorgehen. Zwei weitere Pfähle, und der Zaun lag über eine Länge von mehreren Metern komplett am Boden.
»So«, brummte der Grogoch.
Rian stieß einen leisen Pfiff aus, und sofort ruckten die Köpfe der Tiere hoch und zu ihr herum. Die Elfe winkte und rief ein paar beruhigende und lockende Worte in ihrer Sprache.
Ohne zu zögern trotteten zwei Pferde auf sie zu, die anderen senkten wieder die Köpfe und stöberten zwischen den welken Blättern. Die zwei Tiere blieben vor den Elfen stehen und stupsten Rian mit der Samtschnauze an. Die Elfe lachte auf, strich ihnen über die Nüstern und redete weiter im melodischen Singsang auf sie ein. »Sie sind bereit.«
Rian schwang sich auf einen Rücken und zog Grog hinter sich, während David und Pirx auf das zweite Pferd sprangen. Die Elfen griffen in die Mähnen, die beiden Kobolde klammerten sich an ihnen fest. Ein kurzer Ruf, ein Schnauben, und unter freudigem Johlen von Pirx galoppierten die Pferde los, die Feldwege hinunter, immer an den Schienen entlang und durch den nachlassenden Nieselregen in Richtung Worms.
*
Knapp über dem von unzähligen Füßen blankgeschliffenen Boden wurde das welke Blatt noch einmal herumgewirbelt und kratzte dann mit seinen trockenen Spitzen über das alte Holz. Nicht weit vor Alebin kam es schließlich zur Ruhe. Die Hände in die weiten Ärmel seines silberbestickten nachtblauen Gewandes geschoben, betrachtete der Elf es einen Moment nachdenklich, ehe er einen Schritt vortrat und sich bückte, um es aufzuheben. Die braunen Spitzen knisterten und brachen, als er seine Hand darum schloss. Hastig erhob er sich und trat wieder in die lockere Reihe der Audienzsuchenden zurück, bemüht, nicht vorzeitig aufzufallen.
Doch er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Das war nicht verwunderlich, denn im Tageslicht wirkte er so verblasst und unscheinbar wie das Blatt in seiner Hand. Wenn nicht das Funkeln in seinen großen Augen gewesen wäre, hätte man sogar glauben können, Alebin sei ein Sterblicher, den es nur durch Zufall in diese Halle verschlagen hatte. Doch er war ein Elf, einer, dessen schillernde Natur nur im Dunkel der Nacht zum Vorschein kam, und der das Licht der nächtlichen Sterne daher mehr liebte als das Blauschimmern des Taghimmels.
Es war der Grund, weshalb er eine Audienz nach Einbruch der Nacht erhofft hatte, doch sein Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen. Auch Fanmór ermüdete dieser Tage schneller als früher, und Alebin konnte froh sein, überhaupt so früh einen Platz in der Reihe der Audienzsuchenden erhalten zu haben, welche die Wände des Saales säumten.
Allerdings hätte selbst jemand, der ihn bemerkt hätte, vermutlich wenig darauf gegeben, was er tat. So wie die meisten Crain würden auch die hier Anwesenden sich nur dann mit ihm beschäftigen, wenn es unumgänglich war. Nicht umsonst nannte man das, was er war, einen Meidling. Man mied ihn, wo man konnte. Er hatte an Gwynbaens Seite gegen Fanmór gekämpft, doch als der Moment der Entscheidung gekommen war, war er nicht freiwillig mit ihr ins Exil gegangen, sondern hatte den Meidlings-Schwur geleistet. Es war ihm nicht schwergefallen, denn es war niemals das Volk der Crain gewesen, gegen das er hatte kämpfen wollen, sondern stets nur Fanmór, der kein Crain war und nun dennoch die Herrschaft über sie an sich gerissen hatte.
Doch diese Tat hatte ihn als doppelten Verräter abgestempelt, und niemand wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Nur seinen besonderen Fertigkeiten in der Brennkunst war es zu verdanken,