Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele
ihn überrascht, zerrt an seinen Armen, verkrallt sich in seiner Montur.
»Hanna, lauf!«
Aufgeregte Stimmen nähern sich, zwingen ihn, sie loszulassen.
Wie konnte er nur so überstürzt handeln?
Fremde Hände fassen nach ihm, und Paul weiß, ihm bleibt nur noch die Flucht.
Im Hinauseilen hört er Lilis anklagendes Rufen.
»Haltet ihn auf!«
Und leiser, verzagt, das von Hanna: »Tante, wer war das?«
Nur eine Sekunde will er Lili noch anschauen, ihr Lächeln in sich aufnehmen, es konservieren, aber selbst dafür bleibt keine Zeit.
Wieder ist Paul auf der Flucht.
LILI
Ich sitze am Rand des Schwimmbeckens und lasse meine Füße ins Wasser baumeln. Es dauert einige Zeit, bis ich ihn bemerke. Während er schwimmt, ist sein Gesicht von mir abgewandt. Sein Rücken hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus. Ein wenig erinnert er mich an einen Delphin, der über die Wellen springt. Dann dreht er sich um und liegt einen Moment lang bewegungslos auf dem Wasser. Sein nasses Haar schimmert rot, und auch über seinem Gesicht liegt ein bronzener Schatten. Trotz des Bartes gefällt er mir. Er sieht verdammt gut aus.
Obwohl ich mich für meinen Körper nicht genieren muss, ziehe ich meine Beine hoch und lege die Arme fest um die Knie. Aber er scheint mich ohnehin nicht wahrzunehmen.
Wieder dreht er sich, taucht kurz unter und durchquert dann mit kräftigen Zügen das Becken. Das Wasser perlt auf seiner leicht gebräunten Haut wie Champagnerbläschen.
Es befinden sich noch weitere Hotelgäste im Pool, er aber beachtet niemanden, verhält sich, als wäre er allein. Die anderen scheinen die natürliche Autorität, die er ausstrahlt, zu akzeptieren und machen einen Bogen um ihn. Es ist, als gehöre das große Hotelbecken ihm ganz allein.
Hinter der breiten Glasfläche liegt wie das Bild einer Ansichtskarte die Winterlandschaft. Das Weiß strahlt atemberaubend. Abermillionen von Eiskristallen im frisch gefallenen Schnee fangen die Sonnenstrahlen ein und glitzern wie Diamanten.
Wäre da nicht der interessante Mann im Becken, ich könnte mich von dem Anblick der Natur nicht lösen. So pendelt mein Blick zwischen dem Winterwunder und dem Schwimmer hin und her.
Ich glätte mein nasses Haar, drehe es zu einem Dutt und verknote die langen Strähnen am Hinterkopf. Das Handtuch, auf dem ich sitze, ist inzwischen triefnass, und mir wird kalt. Ich sollte los. So anfällig, wie ich seit jeher für Verkühlungen bin, hole ich mir sonst eine Blasenentzündung. Dennoch stehe ich nur widerwillig auf, falte langsam das Badetuch und steuere die Umkleidekabine an.
Ob er mich wohl bemerkt hat?
Neugierig schaue ich über die Schulter und begegne seinem trägen Blick unter halb gesenkten, dichten Wimpern. Seine Augen sind tiefbraun.
Schnell sehe ich weg.
In der Kabine schäle ich mich aus meinem feuchten Bikini. Auf Armen und Beinen hat sich bereits Gänsehaut gebildet. Nackt stehe ich vor dem Spiegel und mustere mich kritisch. Ich bin mittelgroß, schlank, fast schon mager, aber meine Rundungen sind an den richtigen Stellen. Trotzdem verhülle ich mich gern. Meine Pullis sind meistens eine Nummer zu groß, T-Shirts und Jeans gehören zu meinen Standard-Outfits. So fühle ich mich am wohlsten.
Warum das so ist, kann ich nicht genau sagen. Oder vielleicht doch.
»Anne ist der strahlende Stern, neben dem Lili als Sternschnuppe verglüht.« Eine Freundin meiner Zwillingsschwester hatte diesen Vergleich während unserer Schulzeit gezogen und mich damit unweigerlich auf den Platz der ewigen Zweiten verbannt. Selbst jetzt, mit Anfang dreißig, wirkt er noch nach, und ich stehe in Annes Schatten.
Meine geröteten Wangen heben sich von meinem blassen Gesicht ab. Sie haben heute jedoch weniger mit meinem mangelnden Selbstwertgefühl zu tun als mit der Tatsache, dass mir seit Längerem mal wieder jemand gefällt. Erneut spüre ich dieses aufgeregte Flattern in meinem Bauch.
Ist der Blick vorhin nicht ein Flirt-Signal gewesen?
Anne könnte so etwas instinktiv richtig einschätzen, wo zum Teufel steckt sie überhaupt die ganze Zeit? Seit wir vor vier Tagen in dem luxuriösen Sporthotel in den Bergen angekommen sind, habe ich sie kaum gesehen. Im Unterschied zu mir ist sie eine begeisterte Skifahrerin, ich hingegen genieße es, Zeit für mich zu haben, im Liegenstuhl zu faulenzen und die Sonne auf meinem Gesicht zu spüren oder, wie heute, ausgiebig zu schwimmen. So weit, so gut. Seit meine Schwester ihre Zeit aber zunehmend mit ihren neuen Pisten-Bekanntschaften statt mit mir verbringt, verschlechtert sich meine Laune.
Typisch Anne, zuerst überredet sie mich zu einem gemeinsamen Urlaub, und dann lässt sie mich sitzen.
So ist meine Schwester, so war sie schon immer. Und obwohl ich es besser weiß, bin ich ihrer Einladung auch diesmal gefolgt.
ANNE
Während der Nacht hat es geschneit, und es gibt nichts Herrlicheres, als durch die weiße Pracht zu schwingen. Meine Skier sind neu, ebenso Schuhe, Dress und Helm. So fit und gut drauf bin ich selten. Alles stimmt. In meinem Kopf wummert immer noch die Musik von gestern Abend.
Das Leben ist wunderbar.
Es war wohl die so ziemlich beste Idee seit Langem, hierherzufahren. Ich möchte mich nicht unbedingt als Leidtragende aufspielen, aber in erster Linie ging es mir dabei darum, meine Schwester aus ihrer Lethargie zu holen.
Lili.
Sie war und ist unser Sorgenkind – meines und das unserer Eltern. Sogar Julia, Lilis Arbeitskollegin und Freundin, macht sich so ihre Gedanken. Manchmal ruft die Gute mich an, labert mich voll und bittet dann um Diskretion. Pikanterie am Rande, ich bin eine mitfühlende Schwester, also halte ich mich an ihre Bitte und schweige.
Lili führt das Leben einer Greisin, und das ohne sichtbaren Anlass. Weder ist sie krank, noch hatte sie einen Unfall, und dass sie immer noch unter Omas Tod leidet, okay, sie stand ihr näher als ich, doch es kann nicht ewig als Ausrede für ihre Bequemlichkeit herhalten. Und warum um Himmels willen verunstaltet sie sich wie eine Mumie?
Nun, denke ich und schwinge einen beachtlichen Bogen, Mumie ist nicht das richtige Wort, denn Mumien sind gewickelt und geschnürt. Lili hingegen ähnelt eher einem dieser unglücklichen Kinder, die bei Schulfesten in einen kratzigen Kartoffelsack gehüllt um die Wette hüpfen, um sich gegenseitig vor die Füße zu plumpsen.
Mein Gott, was sind das für hässliche Vergleiche. Es ist doch Sorge, die mich umtreibt, nicht Gemeinheit.
Ich liebe meine Schwester.
Auf diesen Kurzurlaub habe ich sie eingeladen, um sie aus ihrem Alltagstrott zu reißen. Es ist nicht das erste Mal. Gut, ich verdiene mehr als sie, also macht es mir finanziell nichts aus, aber auch mit etwas weniger in der Tasche muss man sich nicht so gehen lassen, wie sie es tut. Was macht sie normalerweise anderes, als zu lange zu schlafen und sich weder zu schminken oder die Haare zu richten, um dann, angetan mit eigenartigem Gewand, um einiges zu spät und wie ein junger Hund hechelnd in ihrer Arbeitsstelle aufzutauchen?
Gleichgültigkeit, so nenne ich das.
In der verstaubten Bibliothek wird sie schließlich sehnlichst von Julia, der zweiten verpeilten Seele erwartet, um sich mit ihr bei Kräutertee über die Ereignislosigkeit ihrer beider Dasein zu unterhalten. Nach dieser Schwerstarbeit und dem notwendigen Kauf eines bestenfalls biologischen Fertiggerichts geht es zurück ins traute Heim, auf die Couch, vor den Fernsehapparat.
Wann meine Schwester zum letzten Mal aus war, ein Date hatte, ich kann es nicht sagen. Und das liegt nicht etwa an Lilis Verschwiegenheit, ich konnte immer wie in einem offenen Buch in ihr lesen, sondern an der ernüchternden Tatsache, dass sie kein Interesse an einer Beziehung hat.
Da läuft es bei mir anders.
Selbst