Post mortem. Amalia Zeichnerin
das nicht gerade, wir kennen uns über gemeinsame Bekannte«, erwiderte Miss Westray mit einem unverbindlichen Lächeln und er hakte nicht weiter nach, denn er wollte nicht über Gebühr neugierig erscheinen.
»Das freut mich«, sagte Clarence deshalb nur. Je nach den Wünschen seiner Kunden sorgte er für eine passende Kulisse im Hintergrund. »Wie möchten Sie abgebildet werden? Im Stehen oder im Sitzen?«
Sie warf einen Blick auf den bereitstehenden Stuhl mit den Armlehnen. »Gern im Sitzen.«
»Wie Sie wünschen, Miss Westray. Sie haben freie Wahl, was den Hintergrund Ihrer Abbildung betrifft. Ich verfüge über verschiedene große Leinwände. Die eine ist schlicht und neutral, ich habe aber auch drei bemalte. Ein Bühnenbildner, der eigentlich fürs Theater arbeitet, hat sie gestaltet.«
»Ganz vorzüglich! Um was für Motive handelt es sich denn?«
»Ich könnte Ihnen eine liebliche Sommerlandschaft mit Bäumen und einer Wiese anbieten oder eine antik anmutende Szenerie mit Säulen, die über korinthische Kapitelle verfügen. Ansonsten hätte ich noch ein durchaus realistisch gemaltes Regal voller Bücher, wie in einer Bibliothek.« Clarence hielt kurz inne. »Wenn Sie einen Rat von mir wünschen?«
Ein charmantes Lächeln erhellte ihre Züge. »Ich bitte darum.«
»Ein neutraler Hintergrund für ein solches Bild wäre aus meiner Sicht ratsam, da Sie sich ja damit bewerben wollen. Ein bemalter Hintergrund würde von Ihnen selbst … ein wenig ablenken, schätze ich.«
Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ja, das denke ich auch.«
Das ließ sich gut an. Manche Kunden waren enttäuscht, wenn er ihnen seine Auswahl vorstellte, oder hatten ganz andere Vorstellungen als er zu einer Abbildung oder auch Ideen, die sich in seinem Atelier gar nicht umsetzen ließen. Er nickte seiner Kundin zu. »Gut, dann nehmen Sie bitte hier Platz.«
Hinter dem Stuhl, auf den er deutete, befand sich eine gabelartige Vorrichtung aus Metall, die verhindern sollte, dass sich die Abzubildenden versehentlich bewegten.
»Haben Sie schon einmal eine Abbildung von sich anfertigen lassen?«, erkundigte er sich.
Miss Westray überlegte kurz, ehe sie ihm antwortete. »Zuletzt als Jugendliche, zusammen mit meinen Eltern. Das dürfte an die fünf Jahre her sein.«
Er lächelte höflich. »Ah, ich verstehe. Nun, dann kennen Sie ja das Prozedere. Seitdem hat sich daran nichts geändert. Ich kümmere mich nun um die Nassplatte und würde Sie um einen Moment Geduld bitten.«
Sie nickte ihm zu, nahm auf dem Stuhl Platz und öffnete ihre Handtasche.
Clarence verließ mit dem Fläschchen Kollodium-Lösung den Raum und ging in den kleineren Lagerraum nebenan, in dem er die Chemikalien und die Glasplatten aufbewahrte. In diesem Raum, den er nie seiner Kundschaft zeigte, weil es gänzlich unnötig war, hatte er alles ganz schlicht und zweckmäßig eingerichtet: ein Regal für die chemischen Substanzen, außerdem ein Tisch, den er immer gründlich abwischte, darauf ein hölzerner Kasten, in dem er die Glasplatten lagerte. Er zog eine der Platten heraus und streifte sich die Handschuhe über.
Die Glasplatte putzte er mit einem Tuch so gründlich, dass sich schließlich kein Staubkorn mehr darauf befand. Vorsichtig legte er sie auf dem blank polierten Tisch ab und übergoss sie mit der Lösung. Diese bestand aus Kollodiumwolle sowie Iod- und Bromsalzen in Ethanol und Ether. Die Flüssigkeit trocknete wie immer rasch zu einer gallertartigen Masse ein. Nun musste er sich eilen. Rasch ging er mit der Platte in die angrenzende Dunkelkammer und tauchte sie in eine Silbernitratlösung, die auf einem Tisch bereitstand. Die Iodsalze wandelten sich nun in Silberiodid und Silberbromid um.
Clarence nahm die behandelte Glasplatte aus dem Silberbad heraus und steckte sie, nass wie sie war, in das lichtdicht schließende Kästchen der Kamera, die ebenfalls auf dem Tisch stand. Er griff mit beiden Händen nach der Kamera, denn sie war recht schwer. Dann nahm er sie mit hinüber ins Atelier.
Miss Westray saß noch immer auf dem Stuhl und kaute etwas, was sie allerdings herunterschluckte, als er die Kamera auf dem Stativ in Stellung brachte. Die Handtasche stand nun zu ihren Füßen, und das war gut so, denn so würde sie nicht im Bild zu sehen sein.
»Miss Westray, ich würde Sie nun bitten, sich nicht mehr zu bewegen«, wies er sie an, während er hinter der Kamera hantierte. »Lächeln Sie gern – aber nur, wenn Sie das längere Zeit durchhalten, ohne dass sich Ihre Gesichtszüge verkrampfen.«
Durch die Lichtwirkung, die mehrere Minuten in Anspruch nahm, würde sich auf der Glasplatte ein Negativ bilden, von dem er nach einer weiteren chemischen Behandlung Papierabzüge herstellen konnte.
Miss Westray hustete.
Er sah hinter der Kamera hervor. Irgendetwas stimmte nicht; ihr Gesicht war mit einem Mal krebsrot. Sie schnappte nach Luft und fasste sich krampfhaft an den Hals.
Einen Moment lang war Clarence wie erstarrt. So etwas war in seinem Atelier noch nie passiert. Natürlich kam es vor, dass Kunden in einem ungünstigen Moment niesten oder husteten, und dann musste er mit der Aufnahme ganz von vorn beginnen. Miss Westray hustete immer noch. Vergessen waren Kamera und Abbildung, Clarence eilte zu der jungen Frau. »Was ist denn los, haben Sie sich verschluckt?«
Sie antwortete nicht. Ihre Hände gestikulierten wild in der Luft, während sie weiter nach Atem rang. Mit zwei langen Schritten war er hinter ihr und klopfte ihr mehrmals auf den Rücken. Aber auch das schien nicht zu helfen, denn sie gab noch immer würgende Geräusche von sich und ihre Gesichtsfarbe war bedenklich. Vielleicht ein Glas Wasser? Er spürte ihr Korsett durch den Stoff des Oberteils ihres Kleides. Sollte er es öffnen, damit sie besser Luft bekam? Aber nein, wenn sie sich verschluckt hatte, half das auch nicht! Himmel, was sollte er nur tun?
Mabel! Seine Frau war Lazarettkrankenschwester gewesen, sie kannte sich besser mit Medizin aus als er. Und sie war zu Hause. Bei allen Heiligen, hoffentlich konnte sie etwas ausrichten!
»Ich hole Hilfe, Miss Westray, halten Sie durch!«
Ohne auf eine Reaktion zu warten, stürzte er aus dem Atelier, nach hinten ins Treppenhaus. Auf der Treppe verfluchte er die Beinverletzung aus Kriegszeiten, die ihn hinken und außerhalb des Hauses einen Gehstock verwenden ließ. Die ihn langsamer machte. Er musste sich am Geländer festhalten, während er sich Stufe um Stufe vorkämpfte. Ihm raste das Herz. Himmel, nahmen diese verdammten Stufen denn gar kein Ende? Endlich war er im ersten Stock vor der kleinen Wohnung, in der er mit seiner Frau lebte, seit die Kinder aus dem Haus waren.
»Mabel!« Er hämmerte an die Tür. »Komm schnell! Ein Notfall!«
Es dauerte keine Minute, bis Mabel die Tür aufriss mit der Arzttasche in der Hand, die sie für Notfälle im Haus hatte. Ihr dunkles Haar, das bereits von grauen Strähnen durchzogen war, wirkte ein wenig zerzaust. Ihre dunkelbraunen Augen waren weit aufgerissen.
»Eine Kundin, Pauline Westray. Sie erstickt!«
Die Augen seiner Frau weiteten sich noch mehr. »Rasch!«, rief sie. Ihre Stimme überschlug sich fast. Gemeinsam hasteten sie die Treppe hinunter – Mabel voran, denn sie war schneller zu Fuß als er. Clarence verfluchte ein weiteres Mal im Stillen sein Bein und die Treppe. Schließlich polterte er mit schweren Schritten zurück ins Atelier.
Mabel war längst bei der Frau in Nöten, die noch immer auf dem Stuhl saß, und beugte sich über sie. Miss Westray war in sich zusammengesunken und hatte ihre Augen geschlossen. Ihre Lippen und die Augenlider wirkten geschwollen. Rund um den Mund ebenso wie am Hals war ihr Gesicht gerötet. Das steife Korsett hielt ihren Oberkörper halbwegs aufrecht. Das Gleiche galt für die Metallvorrichtung hinter ihrem Kopf.
Mabel legte ihr zwei Finger an die Halsschlagader. Die Sekunden wollten nicht vergehen. Sie wurde blass und presste für einen Moment die Lippen zusammen. »Miss Westray ist tot«, sagte sie mit aschfahlem Gesicht. »Oh Gott, die Ärmste! Was ist denn bloß passiert?« Eine Träne lief ihr übers Gesicht. Das, was Clarence selbst noch nicht fassen konnte, war bei seiner Frau wohl längst