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das konnte ich ganz deutlich sehen, nickte.
WOLFSZAHN – DER SCHWIERIGSTE BERG DER ANTARKTIS
Mitte der 1990er-Jahre war ich auf einer Vortragsreise in England unterwegs, und an einem denkwürdigen Abend ergab es sich, dass ich nach meiner Präsentation auch noch die Bilder und Erzählungen eines anderen Bergsteigers erleben durfte. Ein besonderer Vortrag über besondere Berge! Ivar Tollefsen zeigte Bilder von Bergen, die man so auf dieser Welt noch nicht gesehen hat, und erzählte von seinen Tagen auf dem schwierigsten Berg der Antarktis: dem Ulvetanna. »Wolfszahn« bedeutet das in unserer Sprache. Kein Achttausender, aber eine senkrechte Rakete in der horizontalen Eiswüste, so freistehend und isoliert in ihrer Gestalt wie sonst kein anderer Berg dieser Welt. 13 Jahre sind seither vergangen. 13 Jahre lang musste der Traum reifen, bis wir ihn leben konnten. Jetzt, mit knapp 40 Jahren, ist die Zeit dafür gekommen.
Schweres Klettern in großer Kälte ist auf den Bergen der Antarktis gefordert, und Kälte ist es wohl, an das als Erstes gedacht wird, wenn von Antarktis die Rede ist. Und ja, dieser Kontinent ist der Inbegriff von Kälte. Nirgendwo sonst auf unserer Erde sind die Temperaturen derart niedrig. Als Kältepol gilt die sowjetische Wostok-Station im zentralen Polarplateau der Ostantarktis, wo am 21. Juli 1983 die tiefste, jemals in freier Natur gemessene Temperatur von minus 89,2 Grad Celsius gemessen wurde. Als kontinentales Jahresmittel werden für die Antarktis »nur« minus 55 Grad errechnet, denn die Monatsmitteltemperaturen variieren natürlich aufgrund der verschiedenen Tageslängen stark. Am Südpol selbst dauern die Polarnacht und der Polartag jeweils fast ein halbes Jahr, und dadurch schwanken die Mitteltemperaturen auf dem Polarplateau zwischen minus 40 und minus 68 Grad Celsius. Grund für die extremen Temperaturen ist die besondere Eigenart der Schnee- und Eisoberfläche, die eingestrahlte Sonnenenergie erst gar nicht aufzunehmen, sondern wie ein Spiegel fast vollständig wieder zurück ins All zu reflektieren. Verstärkend kommt hinzu, dass die Antarktis mit einem Durchschnitt von 1800 Metern über dem Meeresspiegel auch der Kontinent mit der durchschnittlich größten Höhe ist, was zusammen mit der in Polnähe nur acht Kilometer dicken Troposphäre die Temperaturen noch tiefer sinken lässt und den Südkontinent im Vergleich zur nördlichen Polkappe um ganze 30 Grad kälter macht.
Ein weiteres Extrem bilden die Stürme. Schon im Südpolarmeer toben das ganze Jahr hindurch heftigste Stürme, ohne Unterbrechung jagt eine nicht abreißende Kette an Tiefdruckwirbeln um die Küsten des Kontinents. Auch auf dem Inlandeis lässt das Fehlen jeglicher Vegetation und eines ausgeprägten Reliefs die Stürme mit ungebrochener Kraft wüten. Als geografische Besonderheit finden sich hier die katabatischen Winde, die entstehen, wenn die Luft über der Eisfläche des zentralen Hochplateaus abkühlt und damit schwerer wird als die tiefer gelegene und wärmere Luft der Küstenregionen. Unter Einwirkung der Gravitation beginnen diese kalten Luftmassen schließlich, als Fallwinde vom Zentralplateau zu den Küsten hin abzufließen. Die katabatischen Winde der Antarktis sind mit bisher gemessenen 327 Kilometern pro Stunde die weltweit stärksten Winde. Erst mit Erreichen der Küsten schwächen diese Winde ab, beginnen sich mit der wärmeren Luft des Südpolarmeeres zu vermischen und generieren damit wiederum die Tiefdruckwirbel, die den Kontinent wie ein Gürtel umspannen.
Dieses System erzeugt die stabile Wettersituation, die letztendlich das Klima der Antarktis ausmacht. Das zentrale Kältehoch prägt auch das Bild, das wir von der Antarktis haben. Klare Luft und endlose Weite über einem strahlend weißen Meer aus Schnee und Eis. Und so kommt es im Zentrum des Kontinentes nicht zu den klassischen Niederschlägen, wie wir sie durch die Tiefdruckgebiete zum Beispiel in Europa erhalten, sondern zu einer durch die von der langsamen Abkühlung der Luftmassen auskondensierenden Feuchtigkeit. Viel ist das nicht, in großen Teilen der Antarktis beträgt der Jahresdurchschnitt nur etwas über 40 Liter pro Quadratmeter. Per niederschlagsorientierter Definition ist also fast der gesamte Kontinent eine Wüste – und zwar die größte der Welt!
Und mitten in dieser Wüste steht dieser Ulvetanna, der Wolfszahn, der nicht nur ein wunderschöner Berg mit bestechender Symmetrie ist, sondern auch der schwierigste Berg der Antarktis. Es gibt keinen Punkt, der in der Antarktis schwieriger zu erreichen wäre als die Spitze dieser Kathedrale. Ein perfekter Kletterberg, kein erkennbarer Schwachpunkt, der einen leichten Weg zum Gipfel erlauben würde. Nach den Norwegern versuchen wir als Zweite, einen neuen Weg zum Gipfel zu finden und suchen dafür eine Ideallinie: einen langen, stetig steiler werdenden Grat, dessen Form nach oben hin einen gewaltigen Pfeiler bildet.
Wir sind zu viert. Mein Bruder Thomas, der Schweizer Stephan Siegrist, der Kameramann Max Reichel und ich. Wir sind hoch motiviert, doch das Wetter macht es uns nicht leicht. Nach der Prognose erwartet uns ein Sammelsurium aus Nebel, Wolken, Wind, vielleicht auch mal kurz Windstille, ein wenig Sonne und Schneefall – nur regnen wird es hier nicht. Ist unter diesen vorhergesagten Umständen eine Besteigung des Ulvetanna möglich? Es gibt kein eindeutiges Ja, kein klares Nein auf diese Frage – wie so oft im Leben. Einzig sicher ist, dass wir es nur dann schaffen können, wenn wir es zumindest versuchen. Und irgendwie hat die unklare Situation auch etwas Gutes: Es macht das Ganze spannend!
Nach diesem ganzen Hin und Her unterwegs zu sein, ist fast wie eine Erlösung – nach tagelangem Stillstand bewegt sich endlich wieder etwas. Thomas startet bereits um fünf Uhr los, und zwei Stunden später ziehen auch Max, Steph und ich unsere schweren Schlitten in der Spur von Thomas, die wie eine Schlangenlinie durch die windgepressten Schneeflächen in Richtung Ulvetanna zeigt. Langsam schiebt sich unsere kleine Kolonne auf die acht Kilometer entfernte Kathedrale zu. Während unserer Besichtigungstour rund um die gesamte Gebirgsgruppe haben wir den Nordwestpfeiler als mögliche Linie zum Gipfel visuell erkundet und beschlossen, es so zu versuchen. Weit vorne sehen wir Thomas als winzigen schwarzen Punkt, der sich langsam, aber stetig über die unteren Schneefelder hinaufarbeitet. Er wird heute nicht nur einmal, so wie wir, sondern zweimal mit einem schweren Rucksack über die Schneefelder zum Lager aufsteigen. Die Arbeitsteilung des Tages lautet: Steph und ich werden möglichst weit hinaufklettern und Seile fixieren, während Thomas unser Portaledge-Lager am Ende der Schneefelder errichtet.
Nach zwei Stunden Schlittenziehen sind wir da. Ski abschnallen, Steigeisen an, alles umpacken und in Rucksäcke verstauen und los. Es ist nicht ganz ohne, bis in die Scharte liegt tiefer Neuschnee – und eine ebenso tiefe Spur, die Thomas gezogen hat. In Gedanken bin ich bereits ganz oben am Berg, während wir uns langsam mit den schweren Lasten diese endlosen, bis zu 50 Grad steilen Schnee- und Eisfelder hinaufschinden. Noch ist das Wetter ganz passabel. Da hat Gabl Charly wohl wieder mal recht gehabt! Irgendwo auf halber Strecke kommt uns Thomas auf dem Weg nach unten schon wieder entgegen. Am frühen Nachmittag sind wir am Fuß der Felsen angelangt, exakt dort, wo Thomas das Lager aufbauen wird. Der ganze Neuschnee klebt, fast wie in Patagonien, an der annähernd senkrechten Wand. »Schaut ned guad aus«, denke ich und versuche mein Glück zuerst mal über den markanten, frei stehenden Pfeiler, der die Nordwand von der Westwand trennt. Alles ist voller Schnee und Eis, jeder einzelne Griff und Tritt muss freigeräumt werden, zudem ist es saukalt. Nach 30 Metern stehe ich auf dem Pfeilerkopf und sondiere die Lage. Links von mir ragt die atemberaubend steile Nordwand empor, die eigentlich die bessere Variante wäre, weil sie zumindest ein wenig Sonne abbekommt und vor allem im Windschatten liegt. Da geht aber nichts – zu glatt, zu steil.
Also geht es rechts vom Turm wieder runter. Ein kurzer Abseiler und schon stehe ich vor dem nächsten Hindernis: monolithischer Granit, steil, kompakt, plattig und, so wie es aussieht, nicht absicherbar. In den ersten Metern finde ich noch kleine Strukturen zum Steigen, dann stehe ich mitten in der verschneiten Platte und weiß: »Da muass i rauf!« Mit meinen schweren Bergschuhen steige ich auf kleine Noppen, kralle kleine Leisten. Dass auf dem Pfeilerkopf zehn Meter unter mir die letzte Sicherung ist, macht mir klar: »Wenn’s mich da runterhaut, dann Krankenhaus – wenn es denn hier eines geben würde.« Mit Bohrhaken als Zwischensicherung wäre es kein Problem, aber genau das wollen wir bei dieser Route um alles in der Welt vermeiden. Also lieber sauber bleiben und durchziehen! Alpines Klettern auf höchstem Niveau, und ja: Dieser Berg ist sogar noch einmal schwieriger als Torre Egger, Cerro Torre, Fitz Roy oder all die anderen schwierigen Gipfel Patagoniens.