Winterleuchten am Liliensee. Elisabeth Büchle

Winterleuchten am Liliensee - Elisabeth Büchle


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sollte.

      „Das sagen Sie mal bitte meiner Mutter. Unbedingt!“

      Lisa lachte und verstummte erst, als er sich neben sie setzte und ihr einen bösen Blick zuwarf. Also presste sie die Lippen zusammen, wohl wissend, dass er ihr ihre heimliche Belustigung durchaus ansehen konnte. Aber der Forstmeister starrte nur noch geradeaus, fast so, als habe er Probleme damit, den Geländewagen in der Spur zu halten.

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      Robert schaute von der Beifahrertür aus zu, wie Lisa langsam auf die Eingangsstufen zuging. Ihre Bewegungen ließen darauf schließen, dass sie unter Schmerzen litt. Vermutlich drangen die allmählich zu ihr durch, nun, da sich der Adrenalinspiegel in ihrem Blut senkte. Da Robert sie in der Obhut seiner Mutter gut aufgehoben wusste, schlug er die Tür zu, ging um den Jeep herum und sprang über den Türholm auf den Sitz. Er hatte zu tun.

      Nachdem er den Motor gestartet hatte, warf er einen letzten Blick zur Haustür. Dort stand Lisa und schaute ihn über die Schulter hinweg an. Sie wirkte verloren. Wieder schlich sich das Bild eines Rehkitzes vor sein inneres Auge. Übermütig und neugierig, aber zutiefst verletzlich und … ja, was denn? Einsam? Weil ihm die Mutter fehlte?

      Lisa hatte nicht viel erzählt, doch eines war sicher: Sie hatte die vergangenen Jahre bei ihrer Großtante in Frankreich gelebt. Die Tatsache, dass sie nichts von ihrer Schwester gewusst hatte, verdeutlichte, dass sich Mutter und Tochter in den letzten Jahren nicht gesehen, ja vermutlich nicht einmal Briefkontakt gehalten hatten.

      Robert zwang sich, die Augen von ihr zu nehmen, und fuhr los. Er musste mit Edmund Schuster sprechen, denn Lisa hatte durchaus recht: Die Einheimischen wussten um die Bedeutung der roten Warnsignale, seien es nun Markierungen an Bäumen, ein rot bemalter, in die Erde gerammter Pflock oder – wie Lisa es genannt hatte – ein ausgedientes Herrenhemd als Baumschmuck. Da nun aber zunehmend mehr Touristen ihr kleines Tal bevölkerten, mussten diese entweder über die Schutzvorkehrungen informiert werden oder es war an der Zeit, einheitliche und für jeden verständliche Warnhinweise anzubringen.

      Die Vorstellung, dass einer ihrer Urlaubsgäste unter einen fallenden Baum geraten könnte … Robert atmete tief durch. Lisa hatte unglaubliches Glück gehabt. Oder ein Engel hatte seine schützende Hand über sie gehalten; so wie man es gern annimmt, wenn ein Kind vor großem Unglück bewahrt wird.

      Sie ist kein Kind mehr. Dessen war Robert sich sicher, schließlich hatte er sie heute mehr als einmal im Arm gehalten – oder zumindest so etwas in der Art. Bei der Erinnerung an ihren weichen Körper, den Anblick ihres schlanken Halses und die Weichheit ihres samtigen Haares stieg eine aufwühlende Hitze in ihm auf. Es war lange her, seit er zuletzt eine Frau im Arm gehalten hatte, einmal abgesehen von seiner Mutter und seiner Cousine, was beides nicht zählte. Reagierte er deshalb so heftig auf Lisas Anwesenheit?

      Gestern Abend hätte er beinahe angeboten, seiner Mutter und Lisa beim Abwasch zu helfen, obwohl in seiner eigenen kleinen Küche noch jede Menge dreckiges Geschirr auf ihn gewartet hatte. Lisas fröhliches Lachen war bis in den Anbau herübergedrungen, den er sich mit seinem Großvater teilte. Es war ihm zeitweise unmöglich gewesen, sich auf den Papierkram zu konzentrieren, den er zu erledigen hatte, so sehr hatte das glockenhelle Lachen der jungen Frau ihn abgelenkt.

      Robert schrak hoch, als ein Ast am Jeep entlangschrammte. Schnell lenkte er gegen. Es war leichtsinnig, auf den schmalen Waldwegen mit den Gedanken woanders spazieren zu gehen, zumal der Hang an einigen Stellen besonders steil abfiel. Kaum weniger gefährlich war es für ihn, sich intensiven Überlegungen Lisa betreffend hinzugeben, da sie in etwa drei Wochen ohnehin wieder abreisen würde. Er hatte nicht vor, sich ein zweites Mal das Herz aus dem Leib reißen zu lassen. Dumm nur, dass genau dieser Gedanke darauf hindeutete, dass er offenbar bereit war, es erneut zu verschenken. Vergiss es!, versuchte er, sich selbst zur Vernunft zu bringen.

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      Lisas Überraschung wandelte sich in Begeisterung. Leichtfüßig sprang sie aus dem Bett und eilte über die kalten Bodenbretter zum Fenster. Die Bäume an den Hängen waren mit Puderzucker bestreut, die Wiesen leuchteten ebenfalls in reinstem Weiß und der See war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die aussah wie der Zuckerguss auf einem Kuchen.

      Früher im Allgäu hatte Lisa massenhaft Schnee zu sehen bekommen, in Frankreich nur selten. Das, was sich ihr hier zum Bewundern darbot, war nicht gerade eine dichte Schneedecke, aber Lisa hatte dieses wunderschöne und bezaubernde Weiß so lange nicht mehr gesehen, dass es sie regelrecht überwältigte.

      Eine Windbö strich nahe am Forsthaus durch die Bäume und wehte einige Flocken herbei. In der strahlenden Sonne und vor den vereinzelten blauen Flecken am Himmel funkelten sie wie Diamanten. Wie Feenstaub, korrigierte Lisa sich, wirbelten die Kristalle doch verspielt durch die Luft. Sie liebte die Geschichte von Peter Pan und seinen verlorenen Jungs, da sie selbst doch auch ein verlorenes Kind voller Sehnsucht nach einer Mutter gewesen war.

      Eilig wusch sie sich, froh darüber, dass ihre Schulter und ihr Nacken nur noch einen mäßigen Schmerz aussandten, zog sich Hose und Pullover an und eilte die Stufen hinunter. Die Eingangstür stand offen, also stürmte sie darauf zu, prallte aber nach wenigen Metern gegen jemanden, der gerade aus der Tür zum Anbau in den Flur trat. Die muskulöse Gestalt gehörte eindeutig nicht zu Johann.

      „In welche Gefahr wollen Sie sich diesmal stürzen?“, erkundigte sich Robert und klang dabei sehr gelassen. Oder noch müde?

      „In keine!“, erwiderte Lisa ein wenig atemlos und drückte sich von ihm weg. Allerdings hatte er es nicht sonderlich eilig, seine Hände, die an ihrer Taille lagen, von ihr zu nehmen.

      „Es sah aber so aus, als planten Sie, die Außentreppe hinunterzufallen.“

      „Ich hätte schon rechtzeitig angehalten. Ich will doch nur den Schnee sehen. Und anfassen.“ Sie wusste, dass sie wie ein Kind klang, doch das war ihr egal. Aufgeregt trat sie von einem Fuß auf den anderen.

      „In Strümpfen?“

      „Nein, natürlich nicht.“ Sie sah sich um. Robert hatte recht: Sie war am Schuhregal vorbeigerannt. Prüfend schaute sie zu ihm auf. Sein unrasiertes Gesicht wirkte dunkel, sein Grinsen frech. Und das Blitzen in diesen seeblauen Augen war … aufwühlend. Doch ohne ersichtlichen Grund verfinsterte sich seine Miene und er trat zurück. Dabei schüttelte er über irgendetwas, was sich ihr nicht erschloss, den Kopf und ließ sie stehen.

      Lisa verdrängte das seltsame Gefühl, das sie beschlichen hatte, schlüpfte in Charlottes Wanderschuhe und eilte, ohne diese zuzuschnüren, zur Treppe, die bereits von jemandem gefegt worden war. Vorsichtig stapfte sie hinunter auf den mit Kieselsteinen ausgelegten Vorplatz und griff behutsam in die etwa fünf Zentimeter hohe Schneedecke. Auf deren Oberfläche glitzerten einzelne Kristalle im fahlen Sonnenlicht; kleine Kunstwerke, einzigartig in ihrem weißen Kleid.

      „Wie wunderschön du bist“, flüsterte sie. Watteweiche Kälte durchströmte ihre Handfläche, Erinnerungen ihre Gedanken, Schmerz ihre Seele. Sie war so glücklich und zugleich so unglücklich gewesen. Sie hatte eine Menge Freunde und fürsorgliche Nachbarn gehabt, aber keine Mutter, die sie liebte. Dabei hatte sie Gerda geliebt, wie wohl jedes Kind seine Mutter liebt. Bis sie in einem ratternden Zug gesessen und, umgeben von wildfremden Menschen, begriffen hatte, dass sie keine Mutter mehr hatte; nie eine gehabt hatte. Und nicht einmal da war ihre Liebe gestorben, aber das Wissen geboren, dass sie nicht geliebt wurde. Weil sie nicht liebenswert war.

      Lisa betrachtete ihre nasse Handfläche. Der Schnee war geschmolzen, das Wasser jedoch noch immer da. Camille hatte ihr gesagt, dass Liebe viele Formen annimmt, man einige deutlicher sieht und spürt als andere. Nur weil Gerda selten für sie da gewesen war, kaum einmal gekocht und viele Dinge versäumt hatte, die andere Mütter tun, hieß das nicht, dass sie Lisa nicht geliebt hatte. Lisa war jedoch begierig darauf gewesen, Liebe zu sehen. Sie zu spüren, zu erfahren, zu begreifen. Es hatte sie zutiefst verletzt, weggeschickt zu werden wie ein Haustier, das einem lästig fällt.

      Geblieben war ihre Sehnsucht nach Akzeptanz.


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