Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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vermutend, verhallende Schritte beklagte sie wie den Schall verschwindenden Glücks. Ein Freund kam und brachte Nachricht von Rabold, kein Brief war da, Geld nur schickte er. Fini brauchte nichts, sie warf die Scheine in das Nähzeug und dachte nach, unermüdlich. Er war gewiß gestorben und hatte Auftrag gegeben, ihr Geld zu bringen, und er lebte nicht mehr, gewiß, sonst hätte er geschrieben. Nichts wünschte sie mehr, als die liebe Rundung seiner Buchstaben zu sehn, in frischer, überzeugender Tinte. Die Nacht kam, wie gestern, kalt und leer, die letzten mitternächtlichen Schritte erstarben im Hause, Fini wünschte zu sterben, in dieser Nacht zu sterben.

      Aber sie erwachte, geweckt vom unermüdlichen Gezwitscher eines frühen Vogels und dem Sang schmelzenden Eises auf metallenem Fensterbrett. Von Dächern gezackt, blaute hoch der Himmel, aus geöffneten Fenstern drang Lärm der nachbarlichen Kinder. In früher Stunde kam ein Leierkasten in den Hof, wie ein Bote des Stadtfrühlings. Es sah so aus, als käme heute eine Nachricht von Rabold oder als käme er selbst. Als die Schritte des Briefträgers enttäuschend verhallt waren, beschloß Fini, in die Straßen zu gehn, draußen auf ihren Mann zu warten, wer weiß, ihm vielleicht in den Straßen zu begegnen. Hinaus ging sie, von hastenden Menschen umgeben, von der Sonne begrüßt und der guten Luft des lächelnden Märztags. In das Zentrum der Stadt ging sie, schritt sie, mit rüstigen, jungen Füßen, durch die breiten Straßen.

      Sie verließ die Stadt, sie kam an den fluß und folgte seinem Lauf. Die Sonne stand hoch, sank tiefer, rann aus dem Himmel in den Fluß, daß beide sich röteten. Da setzte sie sich ans Ufer. Ein alter Angler stand und wartete auf seinen Fang. Der Ton einer abendlichen Flöte kam, im Ufergras zirpten die Grillen.

      Fini saß, aber es war ihr, als ginge sie weit und hoch, höher hinauf in den Himmel, auf goldenen Wolken, Wolken aus Scharlach, Treppen aus Purpur. Sie führten aufwärs zu Rabold. Er stand und wartete. Ausgebreitet waren seine Arme, Fini zu empfangen.

      Den Hunger fühlte sie nicht, aber er fraß sie auf, saß in ihren Eingeweiden, umklammerte ihr Herz – und sie fühlte ihn dennoch nicht. Die Müdigkeit ihrer Füße fühlte sie nicht, sie lag weich am Ufer und glaubte zu schweben. Treppen aus Wolken trugen sie, sie brauchte nicht emporzuklimmen.

      Wie einen fernen Schatten sah sie den alten Angler am andern Ufer. Der Alte wuchs und stand wie ein Diener ehrfürchtig und wartend am Eingang. Hatte ihn Rabold vorausgeschickt, sie zu empfangen?

      Sie nickte ihm zu, sie wollte ihn streicheln, da griff sie ins feuchte Gras, sank, glitt, glaubte, sie wäre auf einer Wolke ausgeglitten, und wollte sich hochraffen, aber sie konnte nicht mehr. Jetzt erst überfiel sie die Müdigkeit, nie mehr würde sie Rabold erreichen. Warum kam er nicht, ihr zu helfen?

      Sie fiel ins Wasser, tat noch einen leisen Schrei, sank unter, und der Strom führte sie mit, barg sie vor den Blicken der Welt. Drei Meilen weiter fand man sie, ihren aufgeschwemmten Leib, Wasserrosen und grüne Pflanzen im Haar, den Mund halb offen.

      Sie kam in den Polizeibericht, der keine Ursachen anzugeben wußte. Ihre Leiche lag in der Totenkammer, kam in die Anatomie; denn es fehlte an Leichen, man nahm auch aufgeschwemmte. Niemand wußte, daß sie in den Himmel hatte gehen wollen und ins Wasser gefallen war. Sie zerschellte an den weichen Treppen aus purpurnen und goldenen Wolken.

      Ein Bericht

      1927

      Im folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tunda.

      Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen.

      Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu »dichten«. Das wichtigste ist das Beobachtete. –

      Paris, im März 1927

      Joseph Roth

      Der Oberleutnant der österreichischen Armee Franz Tunda geriet im August des Jahres 1916 in russische Kriegsgefangenschaft. Er kam in ein Lager, einige Werst nordöstlich von Irkutsk. Es gelang ihm, mit Hilfe eines sibirischen Polen zu fliehen. Auf dem entfernten, einsamen und traurigen Gehöft des Polen, am Rande der Taiga, blieb der Offizier bis zum Frühling 1919.

      Waldläufer kehrten bei dem Polen ein, Bärenjäger und Pelzhändler. Tunda hatte keine Verfolgung zu fürchten. Niemand kannte ihn. Er war der Sohn eines österreichischen Majors und einer polnischen Jüdin, in einer kleinen Stadt Galiziens, dem Garnisonsort seines Vaters, geboren. Er sprach polnisch, er hatte in einem galizischen Regiment gedient. Es fiel ihm leicht, sich für einen jüngeren Bruder des Polen auszugeben. Der Pole hieß Baranowicz. Tunda nannte sich ebenso.

      Er bekam ein falsches Dokument auf den Namen Baranowicz, war nunmehr in Lodz geboren, im Jahre 1917 wegen eines unheilbaren und ansteckenden Augenleidens aus dem russischen Heer entlassen, von Beruf Pelzhändler, wohnhaft in Werchni Udinsk.

      Der Pole zählte seine Worte wie Perlen, ein schwarzer Bart verpflichtete ihn zur Schweigsamkeit. Vor dreißig Jahren war er, ein Strafgefangener, nach Sibirien gekommen. Später blieb er freiwillig. Er wurde Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Expedition zur Erforschung der Taiga, wanderte fünf Jahre durch die Wälder, heiratete dann eine Chinesin, ging zum Buddhismus über, blieb in einem chinesischen Dorf als Arzt und Kräuterkenner, bekam zwei Kinder, verlor beide und die Frau durch die Pest, ging wieder in die Wälder, lebte von Jagd und Pelzhandel, lernte die Spuren der Tiger im dichtesten Gras erkennen, die Vorzeichen des Sturms an dem furchtsamen Flug der Vögel, wußte Hagel-von Schnee-und Schnee-von Regenwolken zu unterscheiden, kannte die Gebräuche der Waldgänger, der Räuber und der harmlosen Wanderer, liebte seine zwei Hunde wie Brüder und verehrte die Schlangen und die Tiger. Er ging freiwillig in den Krieg, schien aber seinen Kameraden und den Offizieren schon in der Kaserne so unheimlich, daß sie ihn als einen Geisteskranken wieder in die Wälder entließen. Jedes Jahr, im März, kam er in die Stadt. Er tauschte Hörner, Felle, Geweihe gegen Munition, Tee, Tabak und Schnaps ein. Er nahm einige Zeitungen mit, um sich auf dem laufenden zu halten, glaubte aber weder den Nachrichten noch den Artikeln; selbst an den Inseraten zweifelte er. Seit Jahren ging er in ein bestimmtes Bordell, zu einer Rothaarigen, Jekaterina Pawlowna hieß sie. Wenn ein anderer bei dem Mädchen war, wartete Baranowicz, ein geduldiger Liebhaber. Das Mädchen wurde alt, es färbte seine silbernen Haare, verlor einen Zahn nach dem andern und sogar das falsche Gebiß. Jedes Jahr brauchte Baranowicz weniger zu warten, schließlich war er der einzige, der zu Jekaterina kam. Sie begann ihn zu lieben, das ganze Jahr brannte ihre Sehnsucht, die späte Sehnsucht einer späten Braut. Jedes Jahr wurde ihre Zärtlichkeit stärker, ihre Leidenschaft heißer, sie war eine Greisin, mit welkem Fleisch genoß sie die erste Liebe ihres Lebens. Baranowicz brachte ihr jedes Jahr die gleichen chinesischen Ketten und die kleinen Flöten, die er selbst schnitzte und auf denen er die Stimmen der Vögel nachahmte.

      Im Februar 1918 verlor Baranowicz den Daumen der linken Hand, als er unvorsichtig Holz sägte. Die Heilung dauerte sechs Wochen, im April sollten die Jäger aus Wladiwostok kommen, er konnte in diesem Jahr nicht in die Stadt. Vergeblich wartete Jekaterina. Baranowicz schrieb ihr durch einen Jäger und tröstete sie. Statt der chinesischen Perlen schickte er ihr einen Zobel und eine Schlangenhaut und ein Bärenfell als Bettvorleger. So kam es, daß Tunda in diesem wichtigsten aller Jahre keine Zeitungen las. Erst im Frühling 1919 hörte er von dem heimkehrenden Baranowicz, daß der Krieg beendet war.

      Es war an einem Freitag, Tunda wusch das Eßgeschirr in der Küche, Baranowicz trat in die Tür, man hörte das Bellen der Hunde. Eis klirrte an seinem schwarzen Bart, auf dem Fensterbrett saß ein Rabe.

      »Es ist Friede, es ist Revolution!« sagte Baranowicz.

      In diesem Augenblick wurde es still in der Küche. Die Uhr im Nebenzimmer schlug drei starke Schläge. Franz Tunda legte die Teller sorgfältig und leise auf die Bank. Er wollte die Stille nicht stören, wahrscheinlich


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