Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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Betrunkenen.

      Es waren die streikenden Arbeiter Neuners, die hier ihre Streikgelder vertranken.

      In der Stadt war Schnapsverbot, am Bahnhof erhielt man den Alkohol in Kaffeekannen. Arbeiterinnen saßen da, junge Mädchen, sie waren schwer berauscht, aber nichts konnte ihre Frische ganz verderben, vergeblich kämpfte der Schnaps gegen ihre Gesundheit. Die jungen Burschen gerieten in Streit wegen eines Mädchens und griffen zum Messer. Aber sie schlugen einander nicht tot. Das Volk war nur lebhaft, nicht böse, jemand warf einen Witz zwischen die Kämpfer, und alle söhnten sich aus.

      Dennoch war es gefährlich, hier lange zu sitzen, man konnte plötzlich einen Schlag auf den Schädel erhalten oder einen Stoß vor die Brust, oder es kam einer und nahm dir deinen Hut weg oder schmiß dich auf den Boden, weil er keinen freien Stuhl mehr gefunden hatte. Zwonimir und ich saßen am Ende des Saals, lehnten uns gegen die Wand, so daß wir die ganze Menge übersehen und jeden erblicken konnten, der sich uns näherte. Aber niemand belästigte uns, in unserer Nähe wurden alle freundlich. Manchmal bat uns einer um Feuer, einmal fiel mir eine Streichholzschachtel auf den Boden – und ein junger Bursche hob sie auf.

      »Willst du weitergehn, Zwonimir«? fragte ich – und erzählte ihm, wie es mir ging.

      Zwonimir wollte nicht weitergehn. Er wollte hierbleiben; ihm gefiel der Streik. »Ich will hier eine Revolution machen«, sagte Zwonimir, so einfach, als sagte er: Ich will hier einen Brief schreiben.

      Ich erfahre, daß Zwonimir Agitator ist, aus Liebe zur Unruhe. Er ist ein Wirrkopf, aber ehrlich, und er glaubt an seine Revolution.

      »Du kannst mir dabei helfen«, sagt er.

      »Ich kann nicht«, sage ich. Und erkläre Zwonimir, daß ich ein einzelner bin und kein Gefühl für die Gemeinschaft habe. »Ich bin ein Egoist«, sage ich, »ein wirklicher Egoist.«

      »Ein gebildetes Wort«, tadelt Zwonimir. »Alle gebildeten Worte sind schändlich. In der einfachen Sprache könntest du so Häßliches gar nicht sagen.«

      Darauf kann ich nicht antworten.

      Ich stehe allein. Mein Herz schlägt nur für mich. Mich gehen die streikenden Arbeiter nichts an. Ich habe keine Gemeinschaft mit einer Menge und nicht mit einzelnen. Ich bin ein kalter Mensch. Im Krieg fühlte ich mich nicht eins mit der Kompanie. Wir lagen alle im gleichen Dreck und warteten alle auf den gleichen Tod. Aber ich konnte nur an mein eigenes Leben denken und an meinen eigenen Tod. Ich ging über Leichen, und manchmal tat es mir weh, daß ich keinen Schmerz empfand.

      Jetzt läßt mir der Tadel Zwonimirs keine Ruhe – ich muß über meine Kälte nachdenken und über meine Einsamkeit.

      »Jeder Mensch lebt in irgendeiner Gemeinschaft«, sagt Zwonimir.

      In welcher Gemeinschaft lebe ich? –

      Ich lebe in Gemeinschaft mit den Bewohnern des Hotels Savoy.

      Alexanderl Böhlaug fällt mir ein, auch er lebt nun »in enger Nachbarschaft« mit mir. Was hatte ich mit Alexanderl Böhlaug Gemeinsames? Nicht mit Böhlaug, aber mit dem toten Santschin, der im Wäschedunst erstickt ist, und mit Stasia, mit den vielen vom fünften, sechsten und siebenten Stock, die sich vor Kaleguropulos’ Inspektionsbesuchen fürchten, ihre Koffer verpfändet haben und eingesperrt sind in diesem Hotel Savoy, lebenslänglich.

      Und keine Spur von Gemeinschaft habe ich mit Kanner und Neuner und Anselm Schwadron, mit Frau Kupfer und mit meinem Onkel Phöbus Böhlaug und seinem Sohn Alexanderl.

      Gewiß, ich lebe in einer Gemeinschaft, ihr Leid ist mein Leid, ihre Armut ist meine Armut.

      Jetzt stehe ich da am Bahnhof und warte auf Geld und finde keine Arbeit. Und habe noch das Zimmer nicht bezahlt und nicht einmal einen Koffer für Ignatz.

      Es ist ein großes Glück, das Zusammentreffen mit Zwonimir, ein glücklicher Zufall, wie er nur in Büchern vorkommt.

      Zwonimir hat noch Geld und Mut. Er will in mein Zimmer ziehn.

      Wir wohnen zusammen, in meinem Zimmer, Zwonimir schläft auf dem Sofa.

      Ich biete ihm nicht mein Bett an, ich bin bequem und habe lange Zeit ein Bett entbehrt. In meinem Elternhaus in der Leopoldstadt gab es manchmal wenig Essen, aber immer ein weiches Bett. Zwonimir aber hat sein Leben lang auf harten Bänken genächtigt, »auf echtem Eichenholz«, scherzt er, er verträgt keine Bettwärme und hat schlechte Träume auf weichen Lagern.

      Er hat eine gesunde Konstitution, geht spät schlafen und erwacht mit dem Morgenwind. Bauernblut rollt in seinem Körper, er besitzt keine Uhr und weiß immer die Stunde genau, fühlt Regen und Sonne voraus, riecht entfernte Brände und hat Ahnungen und Träume.

      Einmal träumt er, sein Vater wäre begraben worden; er steht auf und weint, und ich weiß mir keinen Rat mit dem großen, weinenden Mann. Ein anderesmal sieht er seine Kuh verenden, er erzählt mir davon und scheint gleichgültig. Wir gehen den ganzen Tag umher, Zwonimir erkundigt sich bei den Arbeitern Neuners nach den Verhältnissen, nach den Streikführern, er gibt den Kindern Geld und schreit mit den Frauen und befiehlt ihnen, ihre Männer aus dem Wartesaal zu holen. Ich bewundere Zwonimirs Fähigkeiten. Er beherrscht die Sprache des Landes nicht, spricht mit Mienen und Armen mehr als mit dem Mund, aber alle verstehen ihn vortrefflich, denn er redet einfach wie das Volk und flucht in seiner Muttersprache. Aber einen kräftigen Fluch versteht hier jeder.

      Am Abend gehen wir in die Felder hinaus, da setzt sich Zwonimir auf einen Stein, schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt wie ein Knabe.

      »Warum weinst du, Zwonimir?«

      »Wegen der Kuh«, sagt Zwonimir.

      »Aber das weißt du ja schon den ganzen Tag. Warum weinst du jetzt?«

      »Weil ich bei Tag keine Zeit habe.«

      Das sagt Zwonimir ganz ernst, er weint noch eine gute Viertelstunde, dann steht er auf. Er lacht plötzlich auf, weil er entdeckt, daß ein Prellstein wie eine kleine Vogelscheuche angezogen ist.

      »Die Kerle sind zu faul, stellen ihre Vogelscheuchen nicht ordentlich in die Mitte. Prellsteine sind ja keine Vogelscheuchen!! Möchte den Sperling sehn, der vor einem verkleideten Prellstein Angst hat!«

      »Zwonimir«, bitte ich, »fahren wir fort! Geh heim, dein Vater lebt noch, aber er wird vielleicht sterben, wenn du nicht kommst und dann wirst du keine bösen Träume mehr haben. Und ich will auch fort.«

      »Ein bißchen bleiben wir noch«, sagt Zwonimir, und ich weiß, daß er fest bleibt.

      Er freut sich über das Hotel Savoy. Zum erstenmal lebt Zwonimir in einem großen Hotel. Er wundert sich gar nicht über Ignatz, den alten Liftknaben. Ich erzähle Zwonimir, daß in anderen Hotels kleine, milchwangige Buben die Fahrstühle bedienen. Zwonimir meint, es wäre schon vernünftiger, wenn eine solche Amerikasache einem ältern, erfahrenen Herrn überlassen wird. Übrigens sind ihm beide unheimlich, der Fahrstuhl und Ignatz. Er geht lieber zu Fuß.

      Ich mache Zwonimir auf die Uhren aufmerksam und daß sie verschiedene Stunden zeigen.

      Zwonimir sagt, das wäre unangenehm. Abwechslung muß aber sein. Ich zeige ihm den siebenten Stock und den Dunst der Waschküche und erzähle ihm von Santschin und dem Esel am Grab. Diese Geschichte gefällt ihm am besten, Santschin tut ihm gar nicht leid, über den Esel lacht er, des Nachts, während er sich auskleidet.

      Ich mache ihn auch mit Abel Glanz bekannt und mit Hirsch Fisch.

      Zwonimir kaufte bei Fisch drei Lose und wollte noch mehr kaufen und versprach Fisch ein Drittel vom Gewinst. Wir gingen mit Abel Glanz in das Judengäßchen, Abel machte gute Geschäfte, fragte, ob wir deutsche Mark hätten. Zwonimir hatte deutsche Mark. »Zu zwölf ein viertel«, sagte Abel. »Wer kauft?« fragte Zwonimir mit überraschender Kennerschaft. »Kanner!« sagte Glanz.

      »Führen Sie den Kanner her!« sagt Zwonimir.

      »Was


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