Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King. Andreas Suchanek
Online-Shops verkauft. Den Käufer zu finden, grenzt also an ein Wunder.«
Olivia nickte und ging näher. Das Wort ›Heuchlerin‹ war noch zu lesen, die anderen Wörter waren bereits weggewischt. »Wer könnte so einen Hass auf Rebecca Reach haben, um das zu tun?«
»Da gibt es eine Menge Leute«, sagte Chris und lehnte sich neben sie an die Wand. »Rebecca hat viele Neider. So sagt sie zumindest.«
»Und wer?«
»Keine Ahnung. Meistens unterhält sie sich mit Lucian. Ich schätze, ich bin für sie nur der olle Lakai, der die Fotoausrüstung trägt – und es stimmt ja auch.« Er kramte in seiner Hemdtasche und zog ein Päckchen Kaugummi heraus. »Magst du? Sind zuckerfrei.«
Olivia nickte und griff danach. Sie mochte eigentlich keinen Kaugummi. Als er ihr das Päckchen hinhielt, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Finger über seine strichen. Ein wohliger Schauer schoss durch ihren Körper. Sie ließ sich mehr Zeit, als sie eigentlich benötigte, um das Kaugummi aus der Packung zu pfriemeln. Chris behielt sie dabei fest im Blick.
»Du hast spanische Wurzeln, oder?«
»Sí«
»Die dunklen Haare, der Teint, deine perfekte Haut … Außerdem betonst du manche Silben ein wenig gedehnter, als ein Amerikaner es tun würde. Dein Sprachrhythmus ist melodischer.«
»Was dir alles auffällt.« Olivia war hier geboren und Englisch somit ihre Muttersprache, aber es war gut möglich, dass sich durch das Spanischreden zuhause ein leichter Akzent einschlich. Endlich hatte sie das Kaugummi befreit und steckte es in den Mund.
»Ich beobachte gerne Menschen und überlege mir, woher sie stammen oder was sie bereits erlebt haben, wo sie hingehen, wovon sie träumen. So Dinge eben.« Er steckte das Päckchen Kaugummi ein und lachte. »Albern, ich weiß.«
»Finde ich gar nicht. Ehrlich gesagt, geht es mir auch oft so. Wenn ich draußen beim Fotografieren bin zum Beispiel. Dann sehe ich die Welt plötzlich mit anderen Augen. Licht, Formen, Schatten, Gesichter, alles bekommt eine neue Bedeutung. Die Welt durch den Sucher einer Kamera zu beobachten, fokussiert den Blick aufs Wesentliche.«
Chris nickte und schwieg. Es vergingen einige Sekunden, in denen sie sich nur ansahen. Wie gerne würde sie ihn fotografieren. Er wäre das perfekte Model.
»Wenn das vorbei ist …«, sagte er leise, doch was auch immer er fragen wollte, würde Olivia nicht erfahren, denn in dem Moment platzte Randy zur Tür herein. »Da seid ihr ja …«
Sofort fuhren Chris und sie auseinander, als hätten sie etwas Verbotenes getan.
»… endlich«, schloss Randy den Satz ab und starrte Olivia und Chris an, als wären sie Teil der Ausstellung. »Störe ich?«
»Nein.« Olivia schoss die Röte in die Wangen. Herrgott, sie wurde nie rot! Rasch drehte sie sich zur Seite, damit es Randy nicht sehen konnte.
»Ich kann auch wieder gehen«, sagte Randy mit einem Schmunzeln in der Stimme.
»Sei nicht albern«, gab Olivia zurück. »Was ist das für ein Umschlag?« Sie deutete auf das braune Kuvert in Randys Hand. Themenwechsel waren noch immer die beste Ablenkung.
Randy starrte auf das Papier in seiner Hand. »Oh, das. Das sind deine Fotos von gestern.«
Und schwupps, war der peinliche Moment von eben komplett vergessen. »Ist nicht dein Ernst!« Sie rannte zu Randy, riss ihm das Kuvert aus der Hand wie ein Verhungernder einem Koch das Essen und zog die Fotos aus dem Umschlag.
»Die Speicherkarte hat ganz schön was abbekommen, aber ich konnte einen Teil der Daten retten und ausdrucken. Ich schätze, die Bilder sind nicht so, wie du sie dir erhofft …«
»Oh mein Gott!«, sagte Olivia, als sie das erste Foto sah. »Das glaube ich nicht.«
Sie zog das zweite Bild heraus, das dritte, das vierte. »Unglaublich«, flüsterte sie die ganze Zeit über.
»Wow«, sagte Chris, der hinter sie getreten war. Olivia spürte seine angenehme Wärme im Rücken und sofort schlug ihr Herz einen Tick schneller. Er nahm ihr ein Foto ab und betrachtete es genauer. »Die sind fantastisch.«
»Ja, oder?«, sagte Olivia und begutachtete das nächste Bild. Es lag ihr normalerweise nicht, sich selbst zu loben, aber in diesem Fall war es nicht ihr Verdienst, dass die Fotos so großartig geworden waren. Alle Rottöne waren invertiert worden. Einige Details waren verwaschen, die Lichter, die sie vom Karussell fotografiert hatte, wurden als weichgezeichnete Spitzlichter dargestellt. Es sah aus wie abstrakte Kunst. Das Bild von Randy auf dem Holzpferd war mit das Beste. Seine Silhouette war verzerrt, er sah aus als hätte er Flügel, die als Lichtbogen um ihn herumreichten.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Chris.
»Indem ich meine Kamera zertrümmert habe.«
»Bitte?«
»Lange Geschichte.«
Er nahm ihr einige der Fotos aus der Hand und pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Bin sehr gespannt, die zu hören.«
Sie drehte sich zu ihm und lächelte ihn über ihre Schulter hinweg an.
Randy räusperte sich lautstark. »Also, ich will euch nicht unterbrechen bei eurer Flirterei, aber ich habe auch Neuigkeiten wegen der Galerie.«
Olivia schlug Randy mit dem Umschlag auf die Schulter. »Wir flirten nicht. Wir unterhalten uns über Kunst.«
»Klar doch«, sagte Randy und kramte in seiner Umhängetasche nach einem schmalen Leitzordner, der randvoll mit Papieren war. »Hier steht alles, was ich über Rebecca Reach zusammentragen konnte. Zumindest in der Kürze der Zeit zwischen Schule und jetzt.«
»Steinbeck, du bist unglaublich«, sagte Olivia, gab Chris den Umschlag mit den Fotos und nahm ihm den Ordner aus der Hand. Sie blätterte ihn auf. Die Papiere waren voller Post-its mit kleinen Notizen wie ›Rebeccas Schulzeit‹, ›Rebeccas College‹, ›Freunde‹, ›Wohnorte‹ und so weiter.
Chris schnalzte mit der Zunge. »Ein Neek, jetzt verstehe ich.«
»Sag ich doch.«
»Hier vorne«, sagte Randy und wechselte einen raschen Blick zwischen den beiden, »ist die Kurzzusammenfassung«.
Olivia nickte und begann zu lesen. »Rebecca Reach eckte schon öfter mit der Kunst an, die sie ausstellte. Vor zwei Jahren demonstrierten Tierschützer vor ihrer Galerie, weil sie einen Künstler förderte, der angeblich Pelze und Knochen von Tieren in seinen Kunstwerken verarbeitete. Hinterher stellte sich raus, dass es Kunstpelz und Plastikknochen waren. Ein anderes Mal machte sie der Pastor bei den Gemeindemitgliedern schlecht, weil er die Werke von einem ihrer Maler als Blasphemie empfand. Doch Rebecca zog ihr Ding weiter durch. Vor einigen Monaten fing dann der Vandalismus bei ihr an. Einmal waren die Reifen ihres Autos zerstochen worden, ein anderes Mal wurden die Fenster ihres Hauses eingeschlagen. Sie meldete alle Vorfälle, aber der Sheriff nahm es nicht sehr ernst. Laut Zeitungsberichten machte Rebecca ein ziemliches Gezeter auf dem Polizeirevier. Sie beleidigte sogar Bruker als inkompetenten Hornochsen, was ihr eine Nacht im Gefängnis einbrachte und – Achtung, das müsst ihr euch mal vorstellen: Bruker hat ihr daraufhin die Steuerprüfung auf den Hals gehetzt.« Olivia blickte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Der Sack Bruker hat sich bestimmt in seiner Ehre gekränkt gefühlt und wollte ihr eins auswischen.« Sie sah zurück auf den Artikel und las weiter. »Die Prüfer fanden allerdings nichts. Der Vandalismus klärte sich kurz danach auf. Es waren ein paar Jugendliche gewesen, die willkürlich fremdes Eigentum zerstörten. Es traf noch weitere Autos in der Nachbarschaft. Da hat sie Bruker also umsonst beleidigt.«
»Rebecca war bereits in der Schule energisch«, führte Randy weiter fort. »Sie hat die Highschool als Klassenbeste absolviert, ging danach aufs College, um Kunst und Marketing zu studieren. Dort stellte sie bereits ihre ersten Bilder aus und bewies ein Gespür für neue Talente. Außerdem war sie ein Marketing-Ass. Sie gestaltete zu jedem Künstler,