Eine Studie in Scharlachrot. Arthur Conan Doyle
Seine Schlußfolgerungen waren ebenso unfehlbar wie die Beweisführungen von Euklid. Seine Ergebnisse mußten Uneingeweihte so sehr verblüffen, daß sie ihn durchaus für einen Schwarzen Magier halten mochten, bis sie die Verfahren erlernten, mit deren Hilfe er zu den Schlüssen gelangt war.
»Aus einem Wassertropfen«, stellte der Autor fest, »könnte ein Logiker auf die Möglichkeit eines Atlantik oder eines Niagara schließen, ohne von diesen gehört oder sie gesehen zu haben. So betrachtet ist alles Leben eine große Kette, deren Wesen sich erhellt, wann immer wir ein einziges ihrer Glieder zu Gesicht bekommen. Wie alle anderen Künste läßt sich die Wissenschaft der Deduktion und Analyse nur durch langes und geduldiges Studium erwerben; auch ist das Leben nicht lang genug, um es einem Sterblichen zu gestatten, die höchstmögliche Vollkommenheit darin zu erreichen. Bevor er sich jenen moralischen und geistigen Aspekten des Vorgangs widmet, die die größten Schwierigkeiten darstellen, beginne der Forscher mit der Meisterung der elementareren Probleme. Wenn er einem anderen Sterblichen begegnet, so lerne er, auf einen Blick die Geschichte des Mannes zu erfassen und seine Zunft oder seinen Berufsstand zu bestimmen. So kindisch solch eine Übung erscheinen mag, schärft sie doch die Fähigkeit des Beobachtens und lehrt ihn, wohin er zu sehen und worauf er zu achten hat. Die Fingernägel eines Mannes, der Ärmel seines Mantels, seine Stiefel, die Knie seiner Hose, die Hornhaut seiner Daumen und Zeigefinger, sein Gesichtsausdruck, seine Manschetten – all diese Dinge offenbaren deutlich den Beruf eines Mannes. Daß all dies, zusammengenommen, den fähigen Forscher in auch nur einem einzigen Fall nicht erleuchten könnte, ist nahezu unvorstellbar.«
»Was für ein unsägliches Geschwätz!« rief ich aus; ich knallte das Magazin auf den Tisch. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nie solchen Unfug gelesen.«
»Worum geht es?« fragte Sherlock Holmes.
»Also, dieser Artikel«, sagte ich, wobei ich mit meinem Eierlöffel darauf deutete, als ich mich zum Frühstück niederließ. »Ich sehe, daß Sie ihn gelesen haben, Sie haben ihn ja angekreuzt. Ich will nicht leugnen, daß er sehr gut geschrieben ist. Trotzdem irritiert er mich. Das ist ganz offensichtlich die Theorie eines Stubenhockers, der in seinem Lehnstuhl sitzt und all diese netten kleinen Paradoxa ausheckt. Das ist doch in der Praxis nicht durchführbar. Ich möchte ihn mal sehen, wie er eingezwängt in einem Abteil Dritter Klasse in der Untergrund- Bahn steckt und aufgefordert wird, die Berufe aller Mitfahrenden aufzuzählen. Ich wäre bereit, tausend zu eins gegen ihn zu wetten.«
»Sie würden Ihr Geld verlieren«, stellte Holmes ruhig fest. »Und den Artikel, den habe ich geschrieben.«
»Sie!«
»Ja. Ich habe eine Neigung sowohl zur Beobachtung als auch zur Deduktion. Die Theorien, die ich dort dargelegt habe und die Ihnen so chimärisch erscheinen, sind in Wirklichkeit äußerst praktisch – so praktisch, daß ich mit ihnen mein Brot und auch meine Butter verdiene.«
»Wie das?« fragte ich unwillkürlich.
»Also, ich habe einen besonderen Beruf. Ich glaube, ich bin der Einzige auf der Welt. Ich bin ein Beratender Detektiv, wenn Sie verstehen, was das ist. Hier in London haben wir jede Menge beamteter Detektive und etliche private. Wenn diese Leute nicht weiterwissen, kommen sie zu mir, und ich bringe sie auf die richtige Fährte. Sie legen mir alles Beweismaterial vor, und dank meines Wissens über die Geschichte des Verbrechens bin ich normalerweise in der Lage, ihnen weiterzuhelfen. Bei Untaten gibt es große Familienähnlichkeiten, und wenn Sie alle Einzelheiten von tausend Verbrechen kennen, dann wäre es äußerst seltsam, wenn Sie das tausendunderste nicht aufklären könnten. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich neulich in einer Fälschungssache in den Sumpf geritten, und das hat ihn hergebracht.«
»Und diese anderen Leute?«
»Sie werden meistens von privaten Ermittlungsagenturen zu mir geschickt. Sie alle sind Leute, die in irgendeiner Klemme stecken und über etwas aufgeklärt werden möchten. Ich höre ihre Geschichten an, sie lauschen meinen Kommentaren, und dann streiche ich mein Honorar ein.«
»Aber – wollen Sie damit sagen«, fragte ich, »daß Sie, ohne Ihr Zimmer zu verlassen, einen Knoten auflösen können, mit dem andere Leute nicht fertig werden, obwohl sie alle Einzelheiten selbst kennen?«
»Genau das. Ich habe da eine Art Intuition. Hin und wieder gibt es einen Fall, der etwas komplizierter ist. Dann muß ich aktiv werden und mir alles selbst ansehen. Wissen Sie, ich verfuge über eine ganze Menge spezieller Kenntnisse, die ich auf das Problem anwende und die die Dinge wunderbar erleichtern. Diese Regeln der Deduktion, die in dem Artikel niedergelegt sind, der Ihren Tadel hervorrief, sind bei der praktischen Arbeit von unschätzbarem Wert für mich. Das Beobachten ist mir zur zweiten Natur geworden. Sie waren offenbar überrascht, als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung gesagt habe, daß Sie aus Afghanistan gekommen waren.«
»Das hat Ihnen sicherlich jemand erzählt.«
»Nichts dergleichen. Ich wußte, daß Sie aus Afghanistan gekommen waren. Aus langer Gewohnheit ist der Denkvorgang in mir so schnell abgelaufen, daß ich zu der Schlußfolgerung gelangt bin, ohne mir der Zwischenschritte bewußt zu sein. Der Denkprozeß lief folgendermaßen ab: ›Hier ist ein Gentleman der medizinischen Sparte, aber mit der Haltung eines Soldaten. Also offenbar ein Arzt der Armee. Er ist kürzlich aus den Tropen gekommen, denn sein Gesicht ist dunkel, und das ist nicht seine normale Hautfarbe, seine Handgelenke sind nämlich hell. Er hat Mühsal und Krankheit durchgestanden, wie sein abgezehrtes Gesicht verrät. Sein linker Arm ist verletzt worden. Er hält ihn unnatürlich steif. Wo in den Tropen könnte ein englischer Armeearzt viel Mühsal erlebt haben und am Arm verwundet worden sein? Natürlich in Afghanistan.‹ Der ganze Denkvorgang hat nicht einmal eine Sekunde gedauert. Ich habe dann bemerkt, Sie kämen aus Afghanistan, und Sie waren verblüfft.«
»So wie Sie es erklären, ist es ziemlich einfach«, sagte ich lächelnd. »Sie erinnern mich an Dupin von Edgar Allan Poe. Ich hatte keine Ahnung, daß solche Individuen außerhalb von Erzählungen existieren.«
Sherlock Holmes erhob sich und zündete seine Pfeife an. »Sie glauben sicherlich, daß Sie mir ein Kompliment machen, wenn Sie mich mit Dupin vergleichen«, stellte er fest. »Nun denn – meiner Meinung nach war Dupin ein reichlich minderwertiger Bursche. Dieser Trick von ihm, nach einem viertelstündigen Schweigen mit einer à-propos-Bemerkung in die Gedanken eines Freundes hineinzuplatzen, ist doch wirklich ziemlich angeberisch und oberflächlich. Er hatte eine gewisse analytische Gabe, ohne Zweifel; aber er war keineswegs ein so großes Phänomen, wie Poe sich das wohl eingebildet hat.«
»Haben Sie Gaboriaus Werke gelesen?« fragte ich. »Kommt Lecoq Ihrer Vorstellung von einem Detektiv näher?«
Sherlock Holmes schnaubte sardonisch. »Lecoq war ein erbärmlicher Stümper«, sagte er mit Ärger in der Stimme; »er hatte nur eins, das für ihn spricht, und zwar seine Energie. Das Buch hat mich wirklich krank gemacht. Es ging darum, einen unbekannten Häftling zu identifizieren. Ich hätte es in vierundzwanzig Stunden tun können. Lecoq brauchte ungefähr sechs Monate. Man könnte daraus ein Lehrbuch darüber schreiben, was Detektive vermeiden sollten.«
Ich war ziemlich indigniert darüber, zwei Charaktere, die ich bewundert hatte, derart herablassend behandelt zu sehen. Ich ging hinüber zum Fenster und sah hinaus auf die belebte Straße. ›Dieser Bursche mag scharfsinnig sein‹, sagte ich mir, ›aber außerdem ist er auch sehr eingebildet.‹
»Es gibt heute keine Verbrechen und keine Verbrecher mehr«, beklagte er sich. »Wozu ist es gut, in unserem Beruf ein Gehirn zu haben? Ich weiß, daß ich das Zeug habe, mir einen großen Namen zu machen. Es gibt keinen lebenden Menschen (und hat nie einen gegeben), der die gleiche Menge Wissens und natürlicher Begabung in die Aufklärung von Verbrechen eingebracht hätte wie ich. Und was ist das Ergebnis? Es gibt kein Verbrechen, das der Aufklärung würdig wäre; höchstens stümperhafte Übeltaten mit so durchsichtigen Motiven, daß sogar ein Beamter von Scotland Yard sie durchschaut.«
Ich war noch immer verstimmt über seine hochfahrende Redeweise. Ich hielt es für das Beste, das Thema zu wechseln.
»Ich frage mich, wonach dieser Bursche sucht«, sagte ich; ich deutete auf einen stämmigen, einfach gekleideten