Delilah. Sandra Weihs
Sandra Weihs
DELILAH
Roman
Sandra Weihs
DELILAH
Roman
Gedruckt mit Unterstützung der Kulturabteilung des Landes Kärnten, des Landes Oberösterreich und Stadt Wien, Kultur
Weihs, Sandra: Delilah / Sandra Weihs
Wien: Czernin Verlag 2020
ISBN: 978-3-7076-0703-1
© 2020 Czernin Verlags GmbH, Wien
Lektorat: Florian Huber
Autorinnenfoto: Nico Laurin Grabner
Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl
ISBN Print: 978-3-7076-0703-1
ISBN E-Book: 978-3-7076-0704-8
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
Inhalt
… sei sie gegen eine glatte, kalte Oberfläche gestoßen …
… wahrscheinlich schickte sie eine höhere Macht …
… ihr Körper vor dem grauweiß verhangenen Himmel prangte wie ein Schatten vor dem Fenster …
… sie habe sich nur verlaufen …
… als plötzliches Aufbegehren des Lebens …
… Delilah, in deren Lüfte ich mich nie erheben wollte …
… wir würden uns in die Augen sehen, uns küssen, dann lächeln …
… ein Kreis, der sich um ein Zentrum zog in nahezu perfekter Ausführung …
Delilah
Sie hieß Delilah. Delilah war der Name, den sie sich selbst gegeben hatte. Der Name war ihre Haut. Er war ihr Blick und ihr Tanz. Der Name war ihr Gefäß, ihr Drang, ihre Sprache. Delilah wurde sie genannt seit dem Tag ihrer Selbsterkenntnis. Wer sie zuvor gewesen war, war ein Geheimnis, das sie in sich trug.
… sei sie gegen eine glatte, kalte Oberfläche gestoßen …
Der Tag, an dem Delilah mir die Geschichte ihres Namens schilderte, war einer der ersten, die ich mit ihr durch die Gegend stromerte. Es muss ein Tag gewesen sein, kurz nachdem sie an unsere Schule gewechselt war, dem Stiftsgymnasium in einem Vorort einer kleinen Stadt im Süden des Landes. Der lange Herbst zog sich warm bis in den November, das Laub raschelte trocken unter unseren Füßen, als trotze es dem Verrotten.
Damals. Als die Tage lang waren und wir sie noch auszunutzen vermochten durch unsere Jugend und die Gier nach Neuem, Schönem, Unbekanntem. Alles war damals lang, die Tage, an denen wir den Fluss entlang streiften, die Nächte, in denen wir die Stadt entdeckten, die Schulwochen, in denen wir auf die Matura vorbereitet wurden. Die Stromleitungen, denen wir über die Felder folgten, die Gräser, die wir mit den Handflächen streiften, die violetten Kondensstreifen der verzögert nachhallenden Flieger über der untergehenden Sonne. Unser Atem! – Alles war lang.
Der Tag, an dem Delilah mir die Geschichte ihres Namens erzählte, begann mit einer Wanderung durch die Nachbarschaft, vorbei an Einfamilienhäusern mit kleinen und großen, gepflegten und verwahrlosten Gärten. Im Kern des Vorortes ein Supermarkt, die Post, die Bank und ein Café, in dem sich die Arbeitslosen schon vormittags auf ein Bier trafen und nachmittags die Schüler gemeinsam lernten oder einfach den Tag totschlugen. Delilah zeigte sich unbeeindruckt, hatte sie doch schon in vielen Ecken der Welt gewohnt und überall sähe es gleich aus, meinte sie, nur die Felder, Wälder und Auen gefielen ihr und wir wanderten lange ohne Ziel in der Natur. Zur Rast saßen wir auf dem Findling neben dem Fluss, an dem die Kelten vor Jahrhunderten über Recht verhandelt hatten und dem Delilah magische Kräfte zuschrieb. Delilah saß oben, neben der natürlichen Schale, in der sich das Regenwasser am Fels sammelte, und ich am schmalen Vorsprung darunter. Während ich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die trockenen propellerförmigen Samen des Ahorn vom vergangenen Herbst wirbelnd zu Boden fliegen ließ, reckte sie ihr vorspringendes Schlüsselbein und Kinn in die frische Sonne. Ihre Schultern erstreckten sich in einer Kühnheit und Kampfeslust, als hätte sie schon mehrere Kriege gewonnen und könne es mit jedem neuen Gegner aufnehmen, während sie sich am Fels anlehnte, um ihrem unvermeidlichen Sieg mit Gelassenheit zu begegnen. Dabei war sie so dünn und zart wie Seidenpapier. Die schmale Hand mit ihren zarten Fingern bewegte sie in einer anmutigen, ausholenden Langsamkeit, um sich das kupferne Haar aus der Stirn zu streichen. Ich musste Delilah anschauen, immerzu, Delilah war der schönste Mensch, den ich kannte.
Sie war vorausgegangen zum Findling, unserer Naturfestung, dem Ort, an dem sie ihre wahrsten Geschichten erzählte. Immer ging sie, egal wohin, voraus. Delilah machte den Weg frei für mich, sie war die Kräftigere, die Sichere, die, an die ich mich halten konnte, ohne fürchten zu müssen, verloren zu gehen. Ich folgte ihr in die Natur, in Kneipen, in Menschenmengen. Hauptsache, sie war in Reichweite, Hauptsache, ich konnte den Raum fühlen, den sie um uns erschuf, der Bedrängung und Bedrohung wie eine unsichtbare Glocke fernhielt, egal von wo sie kommen mochte, von einem Wind, von einem Insekt, von einem Jungen.
Unsere Mütter waren verschieden wie Stand- und Zugvogel, wie Nest und Bleibe, wie Käfig und Schlüssel. Während meine Mutter meinen Käfig säuberte und pflegte und ausbaute, wedelte ihre Mutter mit einem Schlüssel vor Delilahs Nase und trällerte das Lied der Freiheit. Während ich meine gesamte Kindheit in meinem Heimatnest verbracht hatte, war Delilah nur Monate,