Delilah. Sandra Weihs

Delilah - Sandra Weihs


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vielleicht nur, weil das der Süden war und sie ihn noch nicht kannte. Sie folgte aber keiner inneren Uhr, keinem inneren Kompass, wie die Natur es von den Vögeln verlangte. Zu allem, was sie tat, entschied sie sich bewusst. Wenn ich ein Vogel war, dann war ich einer, der nicht fliegen konnte. Ich fühlte mich wohl in meinem Nest und hatte kein Bedürfnis es zu verlassen, hatte meine Mutter es mir doch wohlig eingerichtet.

      Mein Name ist Penelope, kleines Entlein nannte Delilah mich manchmal und ich schimpfte sie dafür. Sie stupste mich an, wollte mich immer wieder aus dem Nest werfen, mich anfeuern, damit ich fliegen lernte, doch ich hatte Angst, ich hätte keine Kraft in den Flügeln oder die Luft sei zu dünn und könnte mich nicht tragen. Ich krallte mich fest im Nest und Delilah lachte ihr Was-soll-schon-passieren-Lachen, jeder Ton fern der Angst.

      Delilah lachte in dreierlei Art und Weise. Die erste Variante war das Was-soll-schon-passieren-Lachen, es war das Lachen, das jeden mit ihrer Unbekümmertheit ansteckte und Sorgen und Ängste vergessen ließ und wenn ich mich recht entsinne, verflog mit ihrem Lachen auch meine Sorge, keine Kraft in den Flügeln zu haben, wenn auch nur kurz.

      Wir saßen am Findling neben dem Fluss. Delilah zeichnete Wellen in das Regenwasser der Felsschale und beobachtete ihr Spiegelbild, während sie mir die Geschichte ihres Namens schilderte, entrückt und klar, wie nur Delilah sich auszudrücken vermochte. Delilah schickte voraus, die Geschichte wäre eine ihrer ersten Erinnerungen, sie musste vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. (Und ich schicke voraus, dass diese Geschichte ein Märchen gewesen sein muss.) Das Mädchen, das Delilah heißen würde, habe auf ihrem Bett gesessen, mit den Zehenspitzen habe sie den grauen Teppich gestreift, dabei sei ein Geräusch entstanden, das flauschig in den Ohren gekitzelt habe. Sie habe die Mutter beobachtet, wie sie ein helles, silbern schimmerndes Bild in ihr Zimmer gehievt und es danach vorsichtig an die Wand gelehnt habe. Die Mutter habe sich gebückt, um Hammer und Nagel aus der Werkzeugkiste zu nehmen. Dabei habe ihre Mutter sich lächelnd nach ihr umgeschaut und gefragt, ob ihr der Spiegel gefalle, aber sie habe es noch nicht gewusst. Still habe sie weiterhin auf ihren Händen gesessen und fasziniert das Schimmern in allen Farben beobachtet, während die Mutter das Bild an der Wand befestigt und vorausgesagt habe, dass sie den Spiegel lieben würde. Delilah erzählte die Geschichte so, als sei ihr bis zu diesem Erlebnis kein Spiegel auf der Welt untergekommen, als habe sie nichts von diesem Wunderding gewusst.

      Das Bild habe alle Farben der Umgebung aufgesaugt, um sie mit dem Silber zu vermischen und in neuem Glanz wiederzugeben, brillanter und strahlender, als alles was sie bisher gesehen habe. Im Spiegel in ihrem Zimmer habe sie einen Raum erkannt, der wie ein Zuhause ausgesehen habe und einen Teddy, der ihrem Balu wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen war. Sonnenflecken auf dem Teppichboden, einen Puppenwagen in getupftem Rosa wie der ihre und ein Kind mit kupfernem, welligem Haar und gelbem Kleid auf dem Bett, das sie staunend angesehen habe.

      »Wie verwirrt ich war, als ich das Abbild meiner Kinderzimmerwelt im Spiegel gesehen habe!«, und sie lachte über sich selbst, über ihr Unwissen, als sie vier Jahre alt gewesen war und ich stimmte in ihr Lachen ein. Es war ihre zweite Art zu lachen, selbstironisch, entschuldigend, aber liebevoll und mitfühlend ihrem eigenen Selbst gegenüber, ihrem Unwissen, ihrer Unreife, ihrer Unzufriedenheit, allen Unzulänglichkeiten, die sie an sich selbst bemerkte, und sie lachte trotzdem glockenhell und ohne jeden ängstlichen Ton darin und ich musste mitlachen, unweigerlich, ich konnte nicht daran vorbei und musste sie mit ihr auslachen und im Lachen lag bereits die Entschuldigung dafür.

      Delilah erzählte mit zierlichen Gesten deutend weiter, sie habe Mut gefasst. Sie sei vom Bett gehüpft und das Mädchen im Spiegel habe es ihr gleich getan. Sie seien aufeinander zu gekommen, sie hätten sich in die Augen gesehen und die Hände ausgestreckt. Aber als sie die Hand des Mädchens habe ergreifen wollen, sei sie gegen eine glatte, kalte Oberfläche gestoßen. Sie habe das Mädchen so sehr berühren wollen, habe immer wieder an anderer Stelle auf das Bild getippt und das Mädchen habe es ihr gleichgetan. Delilah erzählte und ich glaubte ihr jedes Wort dieser erfundenen Begebenheit, so gerne hätte sie den Raum betreten, mit dem Mädchen spielen wollen, das ihr so gefallen habe, doch nirgends sei ein Eingang, nirgends ein Durchschlupf gewesen, der Raum habe hinter einer unsichtbaren Scheibe gelegen, die nicht zu durchdringen gewesen sei. Sie habe die Stirn an die glatte, kalte Stirn des Mädchens gelegt und ihr in die Augen gesehen. Und sie habe zum ersten Mal in ihrem noch kurzen Leben gedacht: Das bin ich.

      Delilah beobachtete sich im Regenwasser der Steinschale. Noch immer lag etwas in ihrem Blick.

      Sie habe sich selbst erkannt in ihren eigenen Augen, sagte sie, durch Mutters Geschenk des Spiegels. »Ich drängte meinen Körper an die Oberfläche der Scheibe, deren Kühle sich in der stickigen, feuchten Sommerhitze angenehm anfühlte, ich fuhr lange über die Oberfläche und meine Hand im Spiegel tat es mir nach. Ich drückte Bauch an kalten Bauch und entfernte meinen Kopf, um Überblick zu haben, stand da mit vorgewölbter Rundung, sah auf den Bauch im Spiegel und griff nach meinem körpereigenen. Ich kitzelte den Nabel und drückte ihn sodann wieder an die Scheibe, streckte mich, legte meine Handflächen auf die Augen und spreizte die Finger, lugte verzwickt dahinter hervor und sah mich verstecken. Es sah lustig aus, sodass ich das Lächeln sehen konnte, das ich fühlte. Und plötzlich wusste ich, das, was ich sah, das war nicht das, was meine Mutter in mir sah. Was ich sah, trug nicht den Namen, den Mutter mir gegeben hatte. Ich sah Delilah.«

      Sie wiederholte Delilah, und noch einmal flüsterte sie Delilah und sah in das Wasser, fuhr mit den Fingerkuppen über die Oberfläche, sah das Zittern ihres Abbilds, sah mich an und lachte ihre dritte Art des Lachens, ein zartes Lachen, ein sehnsüchtiges, ein Lachen, in dem ein Wunsch lag und Trauer, weil er nicht erfüllt werden konnte.

      … wahrscheinlich schickte sie eine höhere Macht …

      Ich sitze in dem Zimmer, in dem ich schon als Kind gewohnt habe, und sehe in den Garten. Von hier aus kaum zu sehen ist der Spielplatz, der Delilah so erfreute, ein vergessener Ort im Zwielicht zwischen Wald und Wiese. Ich sitze im ersten Stock in meinem früheren Kinderzimmer, das nun mein Schreibzimmer ist und sehe in den Garten, wie ich es schon immer getan habe. Die Rosen, sie wachsen über die Laube, als würde sie jedes Jahr ein unsichtbares Helferlein stutzen, damit sie zu neuer Blüte finden. Der Apfelbaum, der dort steht und der über die Jahre mehr und mehr Früchte trug, nun, so scheint mir, kommt ins Alter, seine Äste werden schwächer, die Früchte weniger. Ich schaue auf den Schwimmteich daneben, der die Farbe von Delilahs Augen hat, und ich erinnere mich an ihr Schauen.

      Ich sehe sie jetzt vor mir an ihrem ersten Schultag im langen Herbst damals.

      Meine Erinnerung ist voller Farben, wenn ich an diesen Tag denke. Das Kupfer ihrer Haare, das sonnenblumengelbe Shirt und die teichgrünen Augen, in deren Tiefe ich hineinfiel, sobald ihr Blick auf mir landete, die olivfarbene Haut, aus der einzelne blonde Härchen in die Luft ragten.

      Sie bemerkte mich unter den anderen als erste. Es war, als baute unser Schauen eine Kraft zwischen uns auf. Mein Körper drängte auf sie zu, da hatte sie noch kein Wort gesagt. Irritiert wirkte sie, als der Lehrer sie ansprach, wie sie mich ansah. Zögerlich beendete sie unseren Augenblick, erklärte ihm, sie sei hierhergeschickt worden, und mein erster Gedanke war, wahrscheinlich schickte sie eine höhere Macht. Gemeint hatte sie den Direktor, der ihre Aufnahme am Gymnasium für das letzte Schuljahr wegen Umzug aus einer weit entfernten Stadt durch die Zuweisung zu einer Klasse bestätigte. Der Lehrer stöhnte, als sei diese Schülerin der Tropfen, der das Fass der immer mehr werdenden Arbeit zum Überlaufen brachte, und wies ihr einen freien Platz in der ersten Reihe zu. Doch sie zeigte auf mich und erklärte feierlich: »Ich setze mich zu dieser Frau.« Das war in vielerlei Hinsicht verstörend für mich. Nie war ich irgendjemandem aufgefallen, noch nie hatte mich jemand auserkoren, noch nie hatte mich jemand eine Frau genannt. Sie hatte mich erwählt und erwachsen gemacht. Immerhin war ich ein hässliches und schüchternes Entlein, zu ernst und zu versonnen, als dass jemand Interesse an mir gefunden hätte. Ich war langweilig und einfach anders und da ich es schon lange aufgegeben hatte, Freunde unter jenen zu finden, die ich selbst nicht verstand, deren Leben, Ansichten und Späße für mich keinen Sinn ergaben, war ich einsam geblieben, ein Entlein unter Schwänen. Immer schon hatte ich jene bewundert, die sich durch Räume bewegten, als gehörten sie ihnen,


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