Augen, die im Dunkeln leuchten. Ingo Rose

Augen, die im Dunkeln leuchten - Ingo Rose


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sich ja auszukennen“, schmeichelt der Händler, „wenn Sie mir Ihre alten Möbel in Zahlung geben, gewähre ich Ihnen einen Ratenkredit. Ich gebe Ihnen diesen Armsessel hier zum halben Preis und den Standspiegel noch gratis obendrauf. Was sagen Sie?“

      Chaja will die Möbel unbedingt haben. Eigentlich ist sie ihrem Wesen nach eher zurückhaltend, fast scheu, sie hört lieber zu und beobachtet. Doch wenn es um Geschäfte geht, ums Kaufen und Verkaufen, ums Verhandeln, dann kommt ihr anderer Wesenszug zum Vorschein, dann ist sie stark und selbstbewusst, zielorientiert und zäh in der Sache. Wer mit ihr verhandelt, bekommt bald Respekt vor diesem nur 1,45 Meter großen Energiebündel, davon können Vaters Lemberger Geschäftsfreunde schon ein Lied singen. Jetzt steht sie da im Möbelladen und schaut dem Inhaber ernst ins Gesicht.

      „Naja, schön sind die Sachen ja, aber wenn ich demnächst in Wien bin, werde ich weitere Angebote prüfen. Sollten Sie sich aber bereits jetzt für einen Preisnachlass entscheiden, könnten wir einig werden.“

      Und so kommt es. Sie wird schon einen Weg finden, die Raten zu begleichen. Nun muss sie nur noch dafür sorgen, dass ihre Eltern nichts merken, wenn die neue Einrichtung geliefert und der alte Plunder entsorgt wird. Sie werden sich schon freuen, wenn die neuen Möbel erst einmal im Haus stehen und ihre Wirkung entfalten, denkt Chaja. Als Zeitpunkt für die Lieferung kommt ihr der Sabbat gerade recht. Salomon und Rebecca, Mutters Eltern, haben die ganze Familie in ihr altes Haus außerhalb von Kazimierz eingeladen. Um nicht mitgehen zu müssen, schützt Chaja eine Migräne vor. Gitel ist erstaunt, dass ihre Älteste nicht dabei sein will, immerhin ist das Kind Rebeccas Lieblingsenkelin. Gerne macht die Großmutter dem Mädchen Geschenke wie bestickte Taschentücher oder Spitzenkrägen. Da werden die Geschwister jedes Mal neidisch. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hat ihr Rebecca gar eine Perlenkette überreicht, die Chaja ein Leben lang in Ehren halten wird. Außerdem würde sie ja noch Stass verpassen, den Hausmeister der Großeltern, der täuschend echte Puppenhäuser und Miniaturmöbel baut. Chaja ist ganz vernarrt in solche Sachen, bislang hat sie noch keinen Besuch bei der Großmutter versäumt.

      „Bist du sicher?“, fragt Gitel ein letztes Mal.

      „Ja, ich muss mich ausruhen, ich kann nicht mit.“

      „Kommt, wir sind schon spät dran, wir müssen los“, ruft der Vater dazwischen. „Wenn unsere Große unbedingt an der Matratze horchen will, soll sie doch.“

      Und los geht’s, endlich ist Chaja allein.

      Sie ist schon mehrmals ungeduldig ans Fenster getreten, denn jede Minute kann der Lieferwagen um die Ecke biegen. Gerade als die Kutsche mit der Mischpoke abgefahren ist, kommen die Möbel. Chaja verbringt den ganzen Tag damit, ihr Zimmer neu einzurichten. Auf das neue Bett legt sie eine Tagesdecke, die sie eigens dafür bestickt hat – wie ihre Mutter ist sie sehr geschickt in feinen Handarbeiten. Entzückt von dem Ergebnis wartet sie gespannt auf die Rückkehr der Familie. Ganz sicher werden die Eltern beeindruckt sein. Als sie am frühen Abend schließlich eintreffen und der Vater die neue Einrichtung zu Gesicht bekommt, erstarrt er.

      „Das kann nicht wahr sein, meine Erstgeborene ist meschugge“, ruft er. „Vollkommen plemplem. Ein Dibbuk muss ihr den Kopf verdreht haben. Was bildest du dir ein? Unsere Möbel gegen das hier einzutauschen?! Wo hast du das her? Was denkst du dir bloß?“ Erbost läuft Hertzel zu dem Möbelhändler in der Stradomstraße und macht das Geschäft rückgängig. Für teures Geld muss er seinen Besitz zurückkaufen. Chaja versteht die Welt nicht mehr. „Niemals werde ich den Ausdruck unbändigen Zorns in seinem Gesicht vergessen, als er den Raum sah. Es war offensichtlich, dass sein Herz zu zerspringen drohte. Bis zum heutigen Tag habe ich mich nie mehr von etwas getrennt, ohne ausgiebig darüber nachzudenken und mir Rat zu holen“, erinnert sie sich später.

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      Gitel Rubinstein war eine elegante Dame. Sie trug eine Perücke, wie es sich für eine Frau unter orthodoxen Juden geziemte, das künstliche schwarze Haar war im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden. Peinlich genau beachtete sie Gebräuche und Traditionen, das hinderte sie jedoch nicht daran, großen Wert auf ihr Äußeres zu legen. Schönheit war ebenso wichtig wie die Reinheit der Seele, fand sie. Das war die Botschaft, die sie an ihren Nachwuchs weitergeben wollte. Abend für Abend salbte sie die Gesichter ihrer Kinder mit der Schönheitscreme ihres ungarischen Bekannten Jakob Lykusky, der sein Produkt in Apotheken und auch im Laden der Rubinsteins in Kommission gab. Es enthielt angeblich eine Mischung aus Walrat, Kräutern, Mandelmilch und der Rinde einer Konifere aus den Karpaten, niemand kannte die genaue Zusammensetzung – außer natürlich Lykusky selbst. Gitel schwor auf seine Creme. Aber auch für die Haarpflege tat sie manches. Vorm Schlafengehen wurde der dunkle Schopf jedes Mädchens mit hundert Bürstenstrichen gepflegt, wobei alle mitzählten – ein Ritual, das sehr beliebt war bei der Mutter, den Töchtern und dem Vater, der ab und an zusah. Gitel war öfter zornig auf ihren Mann, der so wenige praktische Qualitäten besaß und nie so viel verdiente, dass man ein Sümmchen hätte zurücklegen können – etwa für die Aussteuer der Mädchen. Aber sie fühlte sich gut als Mutter so vieler hübscher Sprösslinge, wenn sie auch manchmal mit Schmerzen daran denken musste, dass sie außerdem noch vier Söhne geboren hatte, die ihr aber bald wieder weggestorben waren. Nun wuchsen die Töchter heran. Sie waren lebhaft, aber brav und machten ihr wenig Sorgen. Mit einer Ausnahme: der Ältesten. Seit dem Vorfall mit den Möbeln war eine Spannung zwischen Chaja und Hertzel entstanden, die sich nicht wieder lösen wollte. Der Vater war in eine Art Alarmzustand geraten, er kannte sich mit seiner Ältesten nicht mehr aus und kontrollierte jeden ihrer Schritte. Sie würde ihm, das verlangte er, von nun an bedingungslos gehorchen. Die Stimmung im Elternhaus war getrübt und besserte sich nicht wieder. Chaja war ganz deprimiert.

      „Wie lange soll das noch so gehen?“, fragte sie ihre Mutter.

      „So lange, bis du verheiratet bist. Und dann wirst du deinem Mann gehorchen.“

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      Die Jahre verstrichen. Chaja arbeitete gern im Geschäft und half wie gewohnt ihrer Mutter, aber sie wusste auch, dass ihre Tage im Elternhaus gezählt waren. Die vorwurfsvollen Blicke der Mutter, wenn sie mal wieder einen Verehrer entmutigt hatte, die knarrende Stimme des Vaters, wenn er ihr im Laden Anweisungen gab – sie konnte all das kaum noch ertragen. Ihr war klar, wie die Eltern redeten, wenn sie miteinander allein waren. Denn sie horchte an der Tür.

      „Welcher Mann will sie schon haben?“, hörte sie Gitel klagen. „Jeder weiß doch, wie aufmüpfig sie ist. Fünf Anträge hat sie schon abgelehnt, dabei ist sie über zwanzig!“

      „Ohne eine großzügige Mitgift wird niemand sie nehmen wollen“, ergänzte Hertzel. „In ihrem Alter wird sie nur noch Männer finden, die von anderen Frauen abgelehnt worden sind. Fallobst. Restposten.“

      Den Eltern blieb nichts übrig, als für Chaja einen Schadchen, einen gewerbsmäßigen Heiratsvermittler zu engagieren und weiterhin im Bekannten- und Verwandtenkreis nach einem Bräutigam Ausschau zu halten. Denn bevor die älteste Tochter nicht verheiratet war, konnten ihre Schwestern Pauline, Rosa, Regina, Stella, Ceska, Manka und Erna ebenfalls nicht heiraten, so wollte es der Brauch.

      Chaja litt darunter, dass sie ihre Eltern enttäuschte, aber sie war nicht bereit, ihr Leben unter der Fuchtel eines Ehemannes zu verbringen, der womöglich ein Mensch wäre wie Schmuel, vom Schadchen jüngst vorbeigeschickt. Schmuel war doppelt so alt wie Chaja, dick und kahl, wie sollte sie sich zu einem zweiten Blick auf ihn durchringen – von einem Jawort ganz zu schweigen. Der einzige junge Mann, der schön genug gewesen war, um für Chaja als Ehemann in Frage zu kommen, hieß Stanislaw – und der war unerreichbar für sie. Ach, ihr war das Haus in der Szerokastraße, war Kazimierz, ja ganz Krakau schon längst zu eng geworden, und wann immer sie sich im alten Rosenholzbett vorm Einschlafen in Gedanken verlor, sah sie sich – woanders. Weit weg. Vielleicht in Wien. Oder auf einem Ozeandampfer, unterwegs zu einem fernen Kontinent. Sie wusste, die Mutter hatte Verständnis. Ihr würde sie sich anvertrauen.

      Als Gitel vernahm, dass ihre Große das Haus verlassen wollte, ohne zu heiraten, war sie einerseits erleichtert, das Mädchen sein Geschick


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