Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu
Arbeitern etwa gleich stark bemerkbar machen.50 Die relativ wenigen Photoamateure sind meist Saisonkonformisten, die geringe Anzahl der Engagierten erscheint als abweichende Randgruppe. In ihrer Intensität beschränkt, versagt sich diese Praxis überdies außergewöhnlichen Ansprüchen: Sie ist dazu verurteilt, den traditionellsten Funktionen zu dienen. Sie meidet die besonders anspruchsvollen Mittel oder geht jedenfalls sparsam mit ihnen um. Das gilt vor allem für den Gebrauch des Farbfilms, freilich nicht allein wegen dessen Kosten, sondern auch, weil die Farbphotographie im allgemeinen mit einer Erweiterung des Bereichs des Photographierbaren einhergeht, einer Erweiterung, die an Reisen gekoppelt ist. Solange man vom Photo nichts anderes verlangt als die Fixierung einer wiedererkennbaren Erinnerung (und die Gewohnheit erwartet von einem Familienphoto nichts anderes), genügt eine Schwarzweiß-Aufnahme.51 In diesem Fall verdammt die mindere technische Ausstattung zu einer unzulänglichen Praxis, gleichzeitig bringt sie die Ergebung in eine solche Praxis zum Ausdruck.52
Der Wert, der der Photographie beigemessen wird, gründet darin, daß sie den Forderungen nach Realismus und Lesbarkeit genügt und besser als die Malerei (jedenfalls die moderne) den ästhetischen Erwartungen entspricht. So wird sie häufig zum Objekt einer ungebrochenen und gegenüber den Verhaltensregeln, die den ästhetischen Konsum der gebildeten Klasse bestimmen, gleichgültigen Zustimmung – zweifellos deshalb, weil man sich die Frage nach ihrer Zugehörigkeit zum Universum der Kunst nicht stellt, weil man sie nicht als Kunstwerk befragt und weil man nicht im Traum daran denkt, sie zu den erhabenen Künsten in Relation zu setzten, deren Legitimität man anerkennt, ohne daß sich dadurch das Urteil über die Photographie ändern würde. Das wird ganz deutlich an den Unsicherheiten und Widersprüchen in den Meinungen von Arbeitern zu unterschiedlichen Einschätzungen der Photographie, die ihnen vorgelegt wurden: Während es viele von ihnen ablehnen, sie für eine Kunst zu halten53, und in ihr ein Verfahren ohne Schwierigkeiten und Geheimnisse sehen, das anzuwenden keinerlei Begabung voraussetzt54, stimmen sie ebenso zahlreich Bewertungen zu, die die Photographie über die Malerei stellen.55
Diese Widersprüche sind eher scheinbar und im Grunde genommen auf den Umstand zurückzuführen, daß erst die Problembeschreibung des Meinungsforschers und die Untersuchungssituation eine für die Unterschichten fiktive und artifizielle Fragestellung hervorbringen, nämlich die nach dem ästhetischen Wert der Photographie.56 So läßt z.B. die Tatsache, daß die Mehrzahl der Arbeiter bei der Ausschmückung der eigenen vier Wände der Photographie denselben Rang wie der Malerei einzuräumen geneigt ist, gleicherweise die Schlüsse zu, daß die Photographie für sie eine Kunst ist, daß sich für sie das Problem der Kunst bei der Photographie überhaupt nicht stellt, und daß eine bestimmte Art der Photographie den Normen einer »Ästhetik« unterliegt, deren man als solcher gar nicht habhaft werden kann.
»Ich kann mit dem Kubismus und mit abstrakten Photos oder Bildern nichts anfangen,« sagt ein Arbeiter. »Das werde ich doch nie verstehen. [...] Landschaftsphotos mag ich am liebsten in Farbe, da sieht man die Jahreszeit und die Gegend, wo die Aufnahme gemacht wurde. Das Farbphoto lebt viel stärker als eine Schwarzweiß-Aufnahme. Das ist fast Cinemascope in Farbe. Das geht einem glatt runter.«
Wie die Metapher des Essens belegt, ist die ästhetische Wahrnehmung als Genuß definiert. Ihn gewährt vor allem ein Werk, das eine Realität wiedergibt, die zum Genuß auffordert und sich unmittelbar, ohne angestrengtes Suchen oder Bemühen verstehen läßt. Deshalb erfüllen die Farbphotographie und das Farblitho die ästhetischen Erwartungen besonders erfolgreich – die Gewohnheit, die »guten« Zimmer der Wohnung mit bunten Ansichtskarten oder mit Reproduktionen realistischer Gemälde zu verzieren, ist dafür das Indiz. Ein Arbeiter stellt sich die Ausschmückung seiner Wohnung folgendermaßen vor:
»Hochzeitsphoto, 20 x 30, auf einer Hartfaserplatte aufgezogen, ziemlich hoch an der Wand, darunter meine Kinder. Auf dem Kamin Photos von unserem Haus auf dem Land im kleineren Format 6 x 9 oder Postkartengröße. Auf der Kommode kleine Wechselrahmen mit Photos zum Angucken. Links und rechts von den Photos jeweils ein Blumenstrauß. Eine Wandtafel mit schönen Postkarten (Landschaften, Schiffe, Place de France in Casablanca, algerische, spanische oder griechische Landschaften). [...] Ich habe auch Reproduktionen von Gemälden, die sind eingerahmt. Ich habe das ›Angelus‹.*«
Die im strengen Sinne ästhetische Perzeption fehlt nicht nur dem Blick, den man auf das Photo wirft; sie ist der photographischen Praxis selber fremd. Man braucht die Ablehnung kühner Neuerungen gar nicht in erster Linie ökonomisch zu begründen; die bloße Vorstellung vom »Besonderen« ist so wenig vertraut, daß man es sich nicht anders als in Gestalt phantastischer oder ungewöhnlicher Einfälle der technischen Virtuosität denken kann: »Ich habe Leute gesehen, die schöne Bilder machen, nicht die üblichen Photos, z.B. eine Aufnahme, auf der der Eiffelturm durch die Beine eines Kindes photographiert worden ist. Man kommt selten auf die Idee, solche Photos zu machen.« (Arbeiter, 40 Jahre, der selbst photographiert.) Im Gegensatz zu dem, was diese Äußerungen nahelegen (in denen sich erneut die Situation der Befragung spiegelt), sind es nicht die außerordentlichen oder originellen »Ideen«, an denen es fehlt, sondern es ist der Gedanke, überhaupt Ideen zu haben, denn dies setzte voraus, daß es der photographische Akt an und für sich ist, der das Interesse des Photographen auf sich zieht. Tatsächlich jedoch bleibt die photographische Praxis stets jenen Funktionen untergeordnet, denen sie ihr Dasein und ihre Dauer verdankt, wobei Kostbarkeit und Kostspieligkeit der Ausrüstung diese Unterordnung noch verschärfen.
Obwohl die Photographie auch für die Angestellten den »ästhetischen« Erwartungen und insbesondere der Forderung nach realistischer Darstellung genügt, haben diese nicht mehr dasselbe einfache, unmittelbare und, wenn man so sagen kann, glückliche Verhältnis zur Photographie. Der Schatten der großen Künste, von der Situation der Befragung beschworen oder ins Gedächtnis zurückgerufen, fällt immer wieder auf die Urteile über die Photographie und bringt sie häufig ins Wanken. Den aus der Indifferenz entsprungenen Widersprüchen machen hier jene Zwiespältigkeiten und Unsicherheiten Platz, die in der Angst um die Normen der legitimen kulturellen Praxis wurzeln. Man verklärt die Photographie, indem man sie zur Rarität stilisiert57; zugleich läßt man sie lediglich als eine Kunst minderen Werts gelten.58 Man lehnt es ab, der Photographie denselben dekorativen Rang einzuräumen wie der Malerei; doch obschon man sich weigert, die traditionellen Photos einzurahmen und auszustellen, ist man sehr wohl bereit, gedruckte Photographien aus Bildbänden oder Zeitschriften auszuschneiden und sie zu rahmen. Dieselben Zwiespältigkeiten kommen in der Praxis selbst zum Ausdruck. Die nämliche Neigung, die einen die Photographie als Kunst hat akzeptieren lassen, begründet auch ihre Bewertung als eine minderwertige Kunst. Sie steht für einen verschämten oder, was auf dasselbe hinausläuft, aggressiven ästhetischen Entwurf.
»Ein Photo ist letztlich wie ein Gemälde. [...] Es gibt etwas vom Charakter desjenigen wieder, der es aufgenommen hat, und das ist eben ein bestimmter Stil.« Man gesteht seine Indifferenz ein, seine fehlende Kompetenz oder Geschicklichkeit, was man im Hinblick auf die legitimen Künste niemals tun würde: »Also, was mich angeht, ich habe überhaupt keinen persönlichen Stil, wenn ich Bilder mache, überhaupt keinen. [...] Die Photographie hat mich nie besonders angezogen.« (Angestellte, 25 Jahre, die selbst photographiert.)
Wenn sich unter den Angestellten weniger Amateurphotographen finden, die dafür ambitionierter und besser ausgerüstet sind als die Arbeiter59, wenn die Desinteressierten unter ihnen häufig auf die hohen Kosten dieser Liebhaberei hinweisen, und wenn die Häufigkeit der Praxis mit steigendem Einkommen bei ihnen langsamer zunimmt als bei den Arbeitern, so rührt das daher, daß sie sich implizit auf eine anspruchsvollere Definition dieser Praxis berufen und eher dazu neigen, ganz auf sie zu verzichten, als sie bloß gelegentlich auszuüben oder sie in den Mitteln zu beschränken.60 Die Sorge um die Legitimität der Photographie erklärt, warum in dieser Gruppe seltener als in anderen das Desinteresse an der Photographie für endgültig ausgegeben61 und überwiegend argumentativ gerechtfertigt wird – spontane oder unüberlegte Ablehnungen sind hier relativ selten. Auch werden die ästhetischen Präferenzen weniger unbefangen einbekannt. So kommt es z.B. vor, daß man seine Vorliebe für Gegenlicht-Aufnahmen mit dem Hinweis auf einen Maler oder ein Gemälde begründet.62