Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns. Fritz Bauer
anregen, sie dürfe jedoch dem lernenden und suchenden Schüler nicht als gültige Aussage überlassen werden.12 Während die Broschüre für Berufsschüler ungeeignet sei, könne sie bei Schülern der Oberstufe und vor allem bei Schülern der Höheren Handelsschulen das zeitgeschichtliche Verständnis wirkungsvoll ergänzen und vertiefen.13 Dessen ungeachtet lehnte das Kultusministerium Rheinland-Pfalz die Verteilung des Textes ab. Dem Landesjugendring teilte das Ministerium lediglich mit, dass auf Grundlage der Gutachten Bedenken bestünden, den Text an Schulen zu verteilen, da die Schrift im Einzelnen sachlich fragwürdig und von einer einseitigen Betrachtungsweise diktiert sei.14 Der Landesjugendring wollte sich mit der Entscheidung nicht abfinden und verlangte eine detaillierte Begründung für die Ablehnung.15 Das Ministerium lehnte es ab, die Gutachten öffentlich zu machen. Es sei nicht üblich, die Ausführungen von Gutachtern an Dritte weiterzuleiten.16 Der Vorschlag des Landesjugendringes, im Rahmen einer Rundfunkdiskussion mit dem Autor ins Gespräch zu kommen und die Vorbehalte gegenüber dem Text öffentlich zu diskutieren, wurde ebenfalls abgelehnt, vorgeblich um die Gutachter zu schützen. Doch es erklärte sich auch kein anderer Mitarbeiter des Ministeriums bereit, öffentlich mit dem Landesjugendring sowie dem Autor über den Text zu diskutieren. Auf der Frühjahrsvollversammlung des Landesjugendringes Rheinland-Pfalz am 15.6.1962 wurde daraufhin mehrheitlich beschlossen, das Vorgehen des Kultusministeriums zu kritisieren: »Dem Landesjugendring ist es unverständlich, daß die Broschüre ohne nähere Begründung vom Kulturministerium abgelehnt worden ist. Dies wird umso mehr bedauert, weil dadurch der Eindruck entsteht, daß die Entscheidung einseitig getroffen worden ist und einer sachlichen Haltung entbehrt.«17, heißt es im entsprechenden Beschluss. Zugleich informierte der Landesjugendring die Parteien im Landtag und bat diese um »geeignete Schritte«.18 Die lokale Presse griff den Konflikt auf, Bauers Text wurde in Auszügen von der Tageszeitung »Freiheit« veröffentlicht. Zugleich stellte die Landtagsfraktion der SPD eine Große Anfrage vor dem Landtag von Rheinland-Pfalz. Die SPD-Fraktion wollte von der Landesregierung erfahren, mit welcher Begründung man die Schrift abgelehnt habe: »Welches sind die Beweggründe, die die Landesregierung veranlaßt haben, eine Belebung der Diskussion um die Frage der politischen Vergangenheit unseres Volkes in den Oberstufen unserer Schulen zu verhindern?« Die SPD-Landtagsfraktion betonte zugleich, dass es hierbei nicht darauf ankommen könne, ob das Kultusministerium mit allen in der Broschüre enthaltenen Argumenten übereinstimme.19 Damit spielte die SPD auf die bereits mehrfach in der Presse veröffentlichten Vermutungen an, es seien am Ende gar nicht inhaltliche, sondern politische Gründe gewesen, die für die Ablehnung der Broschüre ausschlaggebend gewesen seien.20 Die Landesregierung geriet unter Druck. Kultusminister Eduard Orth konnte sich nicht mehr länger im Hintergrund halten und nahm einige Tage später im Staatsanzeiger zu den gegen sein Ministerium erhobenen Vorwürfen Stellung. Es sei kaum zu verantworten, eine solche Schrift, die Persönlichkeiten wie Friedrich den Großen oder Bismarck so einseitig sähe und so wenig dem heutigen Forschungsstand entsprächen, noch nicht urteilsreifen und unkritischen Jugendlichen in die Hände zu geben. Zugleich verwahrte sich Orth gegen den Vorwurf, einer Diskussion über den Text aus dem Weg zu gehen. Es könne den Gutachtern auf keinen Fall zugemutet werden, zu einem Streitgespräch mit dem Verfasser einer solchen Broschüre vor den Rundfunk zitiert zu werden.21 Damit gab der Minister unmissverständlich zu verstehen, dass er weder von der Entscheidung abrücken, noch sich auf eine öffentliche Diskussion mit dem Landesjugendring und dem Autor des Textes einlassen werde. Der Landesjugendring kritisierte diese Haltung, dem Kultusministerium sei die politische Dimension des Vorfalls nicht bewusst, immerhin sei der Referent eine bekannte Persönlichkeit im öffentlichen Leben. Es werde bewusst oder unbeabsichtigt die demokratische Integrität von Fritz Bauer in Zweifel gezogen.22 Zugleich verwahrte sich der Landesjugendring gegen den Vorwurf, eine einseitige Betrachtungsweise der geschichtlichen Vorgänge um die nationalsozialistische Machtergreifung zu fördern und betonte, dass der Text als Diskussionsgrundlage dienen sollte.23
Am 10. Juli 1962 wurde die Große Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag diskutiert. Im Verlaufe der Diskussion konfrontierte der SPD-Abgeordnete Jakob Fuchs die Regierung mit einem Brief der CDU-Fraktion, worin der Autor im Zusammenhang mit Bauers Text von einer Erziehung der Jugend zur Vaterlandslosigkeit schrieb.24 Bei dem Schreiben handelte es sich um einen Brief des Fraktionsvorsitzenden der CDU Rheinland-Pfalz an den Landesjugendring , darin hatte dieser von der »fast krankhaften Vaterlandslosigkeit so vieler Deutscher namentlich in der jüngeren Generation« gesprochen und weiter ausgeführt: »Bei sachlicher Beurteilung wird man auch den Vortrag von Dr. Bauer nicht freisprechen dürfen von Tendenzen, die in ähnlicher Richtung liegen.«25 Der Brief war der SPD-Fraktion vom Landesjugendring zugespielt worden. Sehr zum Ärger der CDU-Fraktion, die dem Landesjugendring daraufhin illoyales Verhalten vorwarf.26
In seiner Stellungnahme vor dem Landtag fasste Minister Orth die Schlussfolgerungen der verschiedenen Gutachten zusammen, erwähnte indessen nicht, dass immerhin zwei seiner Mitarbeiter und einer der beauftragten Gutachter die Verteilung der Schrift an höheren Schulen für unbedenklich gehalten hatten.27 Es waren vor allem inhaltliche Gründe, die der Minister für seine Entscheidung anführte, der Verfasser des Textes unterliege einer gefährlichen Vereinfachung, die Darstellungen seien einseitig und missverständlich. Fritz Bauer reagierte in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau auf die Vorwürfe des Ministers.28
Während das Kultusministerium an seinem einmal gefassten Verdikt festhielt, berief der Landesjugendring eine außerordentliche Vollversammlung aller Mitgliedsverbände ein, um sowohl Fritz Bauer als auch den Parteien und dem Kultusministerium die Möglichkeit zu geben, Stellung zu nehmen.29 Minister Orth lehnte die Einladung ab, er sehe die Angelegenheit als erledigt an.30 Der Landesjugendring warf Orth daraufhin vor, sich einer sachlichen Diskussion zu entziehen.31 Die Landtagsfraktion der CDU nahm die Einladung dagegen an, für sie nahm der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Helmut Kohl an der Vollversammlung teil. Fritz Bauer nahm die Gelegenheit wahr, sich zu den gegen seinen Text erhobenen Vorwürfen zu äußern. Die Entgegnung Bauers wurde wenig später vom Landesjugendring in einer eigenen Broschüre abgedruckt.32 Bauers Text wurde vor allem aus inhaltlichen Gründen abgelehnt. Doch indem das Kultusministerium davor warnte, keine falschen Vorstellungen an Jugendliche heranzutragen, bestätigte es damit einen der wichtigsten Kritikpunkte Fritz Bauers. Rückblickend irritiert heute weniger die inhaltliche Kritik an Bauers Text, sondern das paternalistische, bevormundende Verständnis, das darin zum Ausdruck kommt, die Vorstellung, dass man selbst Oberschülern kein eigenes Urteil zutrauen könne. Es ist jene Haltung, die Bauer vor allem kritisierte, von der er glaubte, dass sie dem deutschen Protestantismus und dem deutschen Staatsverständnis besonders tief eingeprägt sei. Doch im Gegensatz zu seinen Kritikern wollte Bauer seine Ausführungen nicht als objektive historische Wahrheit verstanden wissen, sondern den Blick auf die blinden Flecken der offiziellen Vergangenheitspolitik lenken. Bauers Text, insbesondere die schematische Gegenüberstellung von germanischem Freiheitsdenken und römischem Untertanengeist, lässt sich mit guten Gründen kritisieren. Den Gutachtern kann schlecht widersprochen werden, wenn sie dem Autor Vereinfachung komplexer historischer Zusammenhänge vorwarfen. Doch eine solche Kritik ging einerseits von einem naiven Verständnis historischer Objektivität aus, andererseits übersah sie, dass Bauer seine Thesen bewusst zuspitzte, um damit eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen. Er wandte sich vor allem gegen die verbreitete Vorstellung, der Nationalsozialismus sei gleichsam über Nacht gekommen, zugleich ließ sich der Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung für ihn nicht allein mit den Folgen des Versailler Vertrags und den daraus resultierenden sozialen Spannungen erklären. Diese zählte Bauer zu den äußeren Bedingungen, entscheidend war für ihn demgegenüber die innere Disposition der Mehrheitsbevölkerung, war die vermutete Neigung vieler Deutscher, Erfahrungen der Deklassierung, der ungerechten Behandlung durch Ressentiment und Gewalttätigkeit zu kompensieren. An anderer Stelle entwickelte Fritz Bauer eine Typologie der NS-Täter und unterschied dabei zwischen den Gläubigen, den Gehorsamen und den Nutznießern.33 Es waren weniger die gläubig der Sache dienenden Fanatiker, die Bauer interessierten, sondern die Masse jener, die aus blindem Gehorsam oder um sozialer und wirtschaftlicher Vorteile willen dazu beitrugen, ein Unrechtsregime zu stützen. Die offizielle Distanzierung vom Unrechtsstaat des Nationalsozialismus konnte für Bauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frage der Komplizenschaft, der Einwilligung und des Gehorsams bis fast zum bitteren Ende sich nicht allein mit Angst, Hilflosigkeit und Unterdrückung erklären