Die kürzeste Geschichte der Musik. Martin Geck
Martin Geck
Die kürzeste Geschichte der Musik
Reclam
Das Buch wurde erstmals 2006 unter dem Titel Wenn Papageno für Elise einen Feuervogel fängt im Rowohlt Berlin Verlag veröffentlicht.
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Coverentwurf: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung
Coverabbildung: shutterstock / Babich Alexander
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961752-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011289-2
Vorwort
Kann es das geben – eine Geschichte der Musik auf weniger als zweihundert Seiten, von der Urgesellschaft bis zum Hip-Hop?
Man hat mich manchmal gefragt, ob ich mein geballtes Wissen nicht in einer »großen« Musikgeschichte mit enzyklopädischem Anspruch versammeln wolle. Doch davor hat mir immer gegraust, denn selbst tausend Seiten hätten nicht ausgereicht, um aus den unendlich vielen Informationen, die es da zu verarbeiten gäbe, ein schön geschriebenes Buch zu machen.
Da will ich mich lieber gleich an den Bildern einer Ausstellung orientieren: Modest Mussorgski hat in seinem so bezeichneten Klavierzyklus nicht alle Bilder in Musik gesetzt, die er in der Ausstellung seines Maler-Freundes Viktor Hartmann kennenlernte, sondern nur eine Auswahl. Beliebig wirkt die Folge der zehn Tonbilder gleichwohl nicht; denn als Brücke zwischen den einzelnen Nummern gibt es die Promenade: Sie ist aus der Sicht eines Betrachters komponiert, der in der Ausstellung umhergeht und dabei einmal in diese, einmal in jene Stimmung gerät.
In ähnlichem Sinne mag man die 19 Kapitel meiner kleinen Geschichte der Musik als eine Auswahl von Bildern aus jener großen Ausstellung sehen, als die sich Musik über die Jahrtausende hinweg darstellt. Und auch eine »Promenade« fehlt nicht: Jedes Kapitel schließt mit einem Abschnitt, in dem noch einmal ausdrücklich der Autor spricht – Position beziehend und Fragen aufwerfend, für die er auch seine Leserinnen und Leser interessieren möchte.
Natürlich soll das Buch möglichst vielseitig sein. Dass jedoch von den alten Reichen nicht Indien, sondern China behandelt wird, dass zwar von Clara Schumann, nicht aber Fanny Hensel die Rede ist, dass Debussy den Vorzug vor Ravel erhält, dass häufiger von Klavier und Geige als von Trompete und Flöte die Rede ist – dergleichen beruht auf einer subjektiven Entscheidung des Autors. Dass dieser Themen bevorzugt, in denen er sich besonders zu Hause fühlt, dürfte nicht zum Schaden des Buches sein: Wer vom Fach ist und genau liest, wird jedenfalls auf die eine oder andere Textpassage stoßen, die aus neuester Forschungsperspektive geschrieben ist.
Doch soll weniger die Wissenschaft als die Poesie der Musik im Mittelpunkt dieses Buches stehen; und der Autor wünscht sich Leserinnen und Leser, denen seine kleine Geschichte der Musik Lust macht, diese Poesie neu zu entdecken.
Ganz ohne Fachausdrücke kann und soll es nicht zugehen – doch die kann man nachschlagen oder dann und wann auch großzügig überlesen. Generell herrscht Mozarts Devise: »In meiner Oper ist Musik für aller Gattung Leute – ausgenommen für lange Ohren nicht!«
Von der mythischen Macht der Musik
… und den Stimmen der Naturvölker
Kann man sich eine Welt ohne Musik vorstellen? Ohne Gesang, Tanz, Hausmusik, Konzert? Ohne die Nationalhymnen oder die Schlachtrufe der Fußballfans? Ohne Musik in der Diskothek, im Radio, im Fernsehen, im Kino? Ohne Schallplatte, CD, DVD und was es sonst alles gibt?
Manche Menschen dürften Schwierigkeiten haben, nur einen einzigen Tag ohne Musik auszukommen! Was mich betrifft, so würde ich zwar lieber ohne Musik leben als verhungern. Wenn ich aber zu entscheiden hätte, ob die Menschheit – in einer weltweiten Fastenaktion – auf den Verzehr von Fleisch oder auf den Genuss von Bachs, Mozarts und Beethovens Kompositionen verzichten sollte, so würde ich mit Sicherheit das Fleisch vom Speisezettel absetzen und die Musik behalten.
Für Menschen, die in einer Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen sind, mag dieses Beispiel reichlich seltsam klingen; ein Angehöriger eines Naturvolks jedoch würde mich sofort verstehen.
Inzwischen gibt es nur noch wenige Naturvölker, also Lebensgemeinschaften, die seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden weitab von jeder Zivilisation an ihren traditionellen Riten festhalten und uns auf diese Weise eine Ahnung davon vermitteln, wie früher einmal die ganze Menschheit gelebt haben könnte. Ein Naturvolk, von dem sich zumindest kleine Gruppen bis heute erhalten haben, ist der westafrikanische Stamm der Dan. Dort bekam der deutsche Ethnologe Hans Himmelheber vor ein paar Jahrzehnten zu hören: »Die Musik ist sehr wichtig für uns. Ohne sie würden wir uns einfach hinsetzen und sterben. Denkt doch an die schwere Arbeit: ein Mann, der den Busch für eine Pflanzung niederschlägt; die Frauen, die den Reis stampfen! Deshalb sind Arbeitsgruppen, die von Musikern unterstützt werden, so wichtig. Wir haben keine Maschinen, die uns helfen. Aber dafür haben wir die Musik.«
Von einem anderen afrikanischen Stamm heißt es: »Bei den Woloff ist die Bedeutung des Trommelns für die gemeinschaftliche Arbeit so groß, dass sich die Arbeitsgruppe des Dorfes Njau während einiger Monate zur Untätigkeit verurteilt sah, als ihr bester Trommler infolge Trauer um einen nahen Verwandten ausfiel.« Musik dient hier nicht – wie bei uns – vor allem der Unterhaltung, Ablenkung und Entspannung. Es wäre allerdings auch falsch, in ihr eine Art Aufputschdroge zu sehen. Für die alten Kulturen ist sie vielmehr ein unverzichtbarer Kraftstoff: Während die zivilisierten Menschen ihre Maschinen mit Benzin betreiben, »tanken« die Dan Musik: Sie erst gibt ihnen die Kraft, über den Tag hinauszusehen und die schwere Arbeit des Buschrodens zu tun, die erst Wochen oder Monate später Früchte tragen wird. Allgemein könnte man sagen: Musik lässt sie ihre Existenz als sinnvoll erleben. Sie sind nicht allein mit der Natur, mit der schweren Tätigkeit und mit der bangen Frage, ob und wie es morgen weitergeht; in der Musik haben sie eine Begleiterin. Deren pulsierender Rhythmus macht deutlich, dass wir Menschen nicht in der Unendlichkeit der Zeit versinken: Wir werden von einer Ordnung gehalten – ebenjener Ordnung, die die Musik vorgibt.
Da ist die Vorstellung einsichtig, dass die Menschen die Musik nicht selbst erfunden, sondern von den Göttern als Geschenk erhalten haben – als eine Gabe, die sie in ihrer Schwachheit immer wieder stark macht. »Erst die Götter, dann die Musik, dann die Menschen.« So heißt es jedenfalls in vielen Sagen.
Hazrad Inayat Khan, ein indischer Weiser, überliefert folgende Legende: Während der Erschaffung der Welt konnte man die Seele sehen, wie sie frei herumflog und alles interessiert betrachtete – das Werden des Klangs, Tag und Nacht, Wasser und Erde, Pflanzen und Tiere. Und je reicher die Welt wurde, desto spannender fand die Seele alles, was um sie herum passierte. Am sechsten Tag schaute sie zu, wie der Schöpfer einen Körper aus Lehm formte. Sie erschrak fürchterlich, als sie ihn sagen hörte: »Deine Aufgabe ist es, in diesem Körper zu wohnen!« Die Seele protestierte lauthals: »Niemals! Ich bin frei, und meiner Natur entspricht es, unbeschränkt zu sein; wie soll ich mich da in ein Gefängnis begeben?« Da ließ der Schöpfer die Engel musizieren, und durch deren Musik wurde die Seele von einer nie gekannten Sehnsucht ergriffen. Diese Sehnsucht war es, die sie dazu brachte, den Körper neu zu sehen und schließlich darin zu wohnen.
Die griechische Sage erzählt vom Sänger Orpheus, der mit seinem Gesang wilde Tiere zähmt und sogar seine Gattin Eurydike dem Totenreich vorübergehend entreißen kann. Und in der 29. Rune des finnischen Nationalepos Kalevala zaubert der muntere Held Lemminkäinen durch lange Lieder und schönen Gesang in eine karge Insellandschaft Wälder, Seen, Quellen, Blumen und Geschmeide – die Jungfrauen, die ihn umschwärmen, sind begeistert.
Da ist sie wieder, die mythische Macht der Musik. Der alttestamentliche Prophet Elisa vermag dem dürstenden Volk eine Wasserader