Die kürzeste Geschichte der Musik. Martin Geck

Die kürzeste Geschichte der Musik - Martin Geck


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Richard Wagner einen jungen Hirten singen:

      Frau Holda kam aus dem Berg hervor,

      zu ziehn durch Wälder und Auen;

      gar süßen Klang vernahm da mein Ohr,

      mein Auge begehrte zu schauen …

      Im Mittelalter gaben freilich andere »süße Klänge« den Ton an – nämlich diejenigen des gregorianischen Chorals und der katholischen Liturgie. Und beide sollten, wie gesagt, möglichst im gesamten Abendland auf ein und dieselbe Weise erklingen. Das ist bekanntlich in erstaunlichem Maße geglückt: Noch im 21. Jahrhundert ist der gregorianische Choral in vielen Ländern ein fester Bestandteil der katholischen Messe. Wer heute in Deutschland einen solchen Gottesdienst besucht, wird dort Weisen hören, die nach wie vor an der mehr als tausend Jahre alten Gregorianik orientiert sind, obwohl die Texte der Liturgie inzwischen nicht mehr in lateinischer, sondern in deutscher Sprache vorgetragen werden.

      Einheitlichkeit von solchem Ausmaß konnte dauerhaft nur erreicht werden, wenn man die Töne des gregorianischen Chorals schriftlich fixierte und entsprechend verbreitete. Zwar verwendeten schon andere Völker eine Notenschrift, unter anderem Chinesen und Griechen. Doch das waren Wort- oder Buchstabenschriften. Demgegenüber machen Mönche in den europäischen Klöstern des 7. bis 13. Jahrhunderts die phantastische Entdeckung einer Notenschrift von ganz neuer Qualität.

      Am Anfang stehen »Neumen«; man könnte sie vage als Wegmarken beim Vortrag des einstimmigen gregorianischen Chorals bezeichnen. Später werden sie durch Noten im heutigen Sinn ersetzt, die ihren Platz in einem ausgeklügelten Liniensystem finden und die Tonhöhe genau angeben. Nach und nach differenziert man außerdem zwischen unterschiedlichen Tonlängen, so dass sich auch rhythmisch komplizierte Melodien exakt notieren lassen. Das Ganze ist ein langer Prozess, der erst im 13. Jahrhundert mit der »Mensuralnotation« zu einem vorläufigen Abschluss kommt. Ihr Name kommt vom Lateinischen »mensurare« (»messen«) und besagt, dass man mit ihrer Hilfe die relative Zeitdauer der einzelnen Töne genau angeben kann.

      Wäre es ihnen lediglich darum gegangen, einstimmige Melodien zu fixieren, hätten sich die mittelalterlichen Musikgelehrten den Kopf nicht so ausgiebig um die Notation zerbrechen müssen. Und in der Tat gilt ihr Interesse einem weiteren, viel spannenderen Phänomen: Während die Mönche ihre Weisen niederschreiben, kommt ihnen der Gedanke, eine zweite und womöglich dritte Stimme exakt unter die erste zu setzen; würde man dieses »mehrstimmig« Notierte tatsächlich aufführen, könnten die Weisen der Liturgie zur höheren Ehre Gottes in besonderem Schmuck erklingen.

      Dergleichen hat freilich nur Sinn, wenn das jeweils untereinander Stehende auch gut zusammenklingt. Also muss man das »Komponieren« lernen, das heißt wörtlich: die sinnvolle Zusammenstellung von Tönen. Die »Partitur«, wie man die Zusammenschreibung mehrerer Stimmen später nennt, wird zu einer Art Landkarte. Auf ihr ist nicht nur der »Weg« der einzelnen Stimme eingezeichnet, vielmehr kann man auch den Gang der ganzen mehrstimmigen Komposition nachvollziehen und ihre schöne Ordnung auch lesend genießen.

      Rückblickend erscheint es rätselhaft, dass die mittelalterlichen Gelehrten viele Generationen, ja Jahrhunderte gebraucht haben, um ihre Entdeckung wirklich zu nutzen und eine in unseren Ohren vollgültig mehrstimmige Musik zu komponieren. Man muss sich jedoch ihren Ausgangspunkt klarmachen: Einfache Mehrstimmigkeit wurde von den Volksmusikern längst praktiziert. Diese kannten zwar keine Noten, waren aber in der Lage, aus dem Kopf zu einer Hauptstimme eine zweite Stimme zu erfinden, welche die erste begleitet oder umspielt. (Heute gibt es Vergleichbares noch im Jazz.)

      Solcherart improvisierte Mehrstimmigkeit wurde freilich von den mittelalterlichen Musikkennern geringgeschätzt, mochte sie ihnen insgeheim auch gut gefallen. Sie mussten daher den Eindruck erwecken, als würden sie die Mehrstimmigkeit neu entdecken. Und weil die dafür zuständigen Gelehrten das Komponieren – ähnlich wie im alten China – als eine philosophische und theologische Tätigkeit betrachteten, wollten sie vor allem beweisen, dass komponierte Mehrstimmigkeit dem göttlichen Schöpfungsplan entsprach. Für die Zusammenstellung der Töne waren somit dieselben Zahlenverhältnisse maßgebend wie für den gesamten Kosmos.

      Fasziniert waren die Mönche von einer Beobachtung, die schon andere, zum Beispiel der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras, gemacht hatten: Teilt man eine Saite im Verhältnis 1 : 2 oder 2 : 3 oder 3 : 4 und zupft sie anschließend an, so erhält man zum Grundton die Oktave (1 : 2), die Quinte (2 : 3) und die Quarte (3 : 4). In diesem einfachen Zahlenverhältnis 1 : 2 : 3 : 4 sah man einen Wink der Schöpfung, wie sich die mehrstimmige Musik theologisch korrekt einrichten ließe, und man komponierte zunächst schlichte »Organa«, also Stücke, in denen die Parallelbewegung von Oktaven, Quinten und Quarten vorherrschte. Das hörte sich allerdings so langweilig an, dass die Mönche phantasievoller werden mussten, wenn die Praktiker nicht über sie spotten sollten. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts entstanden dann in der Tat wahre kompositorische Wunderwerke, die zwar weiterhin streng nach bestimmten Zahlenverhältnissen geordnet waren, zugleich aber ein reiches harmonisches Gewebe bildeten.

      Obwohl es die kunstvolle Mehrstimmigkeit gewesen ist, welche der europäischen Musik eine bis heute andauernde Weltgeltung verschafft hat, wäre es falsch zu glauben, dass sie das Musikleben des europäischen Mittelalters durch und durch geprägt hat. Wir vergessen leicht, dass sie zunächst nur in wenigen kirchlichen und weltlichen Zentren heimisch gewesen, der einfachen Bevölkerung jedoch unbekannt geblieben ist.

      Das Volk erfreute sich vor allem an der schriftlosen Kunst der Spielleute, die – anders als die Mönche – auf unmittelbaren Kontakt mit ihrem Publikum bedacht waren. Sie spielten mitreißend zum Tanz auf, begleiteten sich zu ihren Heldengesängen und wirkten bei den unterschiedlichsten Theateraufführungen und Gaukeleien mit. Anders als die strenge kirchliche Kultur setzten sie auf die Abenteuer-, Hör-, Lach- und Bewegungslust von Menschen, die für einen Augenblick wieder »Kind« werden und sich naiv freuen oder gruseln wollten.

      Die Vertreter von Obrigkeit und Kirche reagierten säuerlich oder feindlich. Sie nannten die Spielleute »Lockvögel des Teufels«, verwehrten ihnen bürgerliche Rechte und machten sie damit zwangsläufig zu »Fahrenden«, die überall und nirgends auf der Welt zu Hause waren und von jedermann angegriffen werden konnten. Und bekam ein Fahrender ausnahmsweise einmal gegenüber einem Bürger oder einem Adeligen recht, so durfte er nur dessen Schatten schlagen, musste sich also mit einer symbolischen Genugtuung begnügen.

      Dass man ihnen oft sogar die christliche Beerdigung verweigerte und sie auf freiem Feld verscharrte, belegt ein Spruch des Nürnberger Volkspoeten Hans Sachs: »Stolp, stolp, stölperlein, da wird ein Pfeifer begraben sein.« Volkstümliche Redensarten wie »Spielleute und Lumpen wachsen auf einem Stumpen« oder »Gigel, geigel, Fidelboge, was der Spielmann sagt, das ist erloge« beleuchten diese heikle soziale Situation und kommen natürlich nicht von ungefähr: Wer von der Hand in den Mund leben muss, kann in seinen Überlebensstrategien nicht zimperlich sein.

      Um die Spielleute vom »ordentlichen« Teil der Bevölkerung abzugrenzen, gab es allerlei Kleiderordnungen. Anders als etwa kirchliche Sänger durften sie hier und da nur kurze Kittel tragen. Und weil sie vielfach die abgenutzten Kleider aus den Truhen der Reichen geschenkt bekamen, war ihre Tracht nicht selten buntscheckig oder von grotesker Pracht. Beliebt waren auch schuppenartige Überzüge, wie man sie von Papageno aus Mozarts Zauberflöte kennt. Aufgenähte bunte Lappen, welche die Behörden zur Kennzeichnung der Fahrenden manchmal ausdrücklich verlangten, verstärkten das Bild der Absonderlichkeit. Jüdische Musiker, die »Klezmorim«, wurden oft gezwungen, hohe, spitze Hüte aufzusetzen. Das am 1. August 1551 von Kaiser Ferdinand I. erlassene »Mandat des gelben Flecks« nimmt sogar den menschenverachtenden »Judenstern« aus der Zeit des Nationalsozialismus vorweg.

      Sowenig die Spielleute einerseits galten, so unentbehrlich waren sie andererseits, um Freude und Farbe in den Alltag zu bringen und große Menschenansammlungen zu unterhalten. Nach einem Bericht der Limburger Chronik kamen anlässlich des Frankfurter Reichstags im Jahr 1397 außer achthundert Dirnen auch »funftehalp hondert farender lude, so spellude, pifer, dromper, sprecher und farende schuoler« in die Stadt. Wer Glück hatte, konnte sich dem Gefolge eines Fürsten anschließen und vielleicht sogar zum fest angestellten Trompeter aufrücken. In dieser Position trug er dann


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