Die kürzeste Geschichte der Musik. Martin Geck

Die kürzeste Geschichte der Musik - Martin Geck


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Lob Gottes – nicht anders als jeder schön gewachsene Baum, jedes zweckmäßig geschaffene Tier, das durch seine bloße Existenz Gott lobt.

      Während die Sänger der Schola Generation um Generation ihren Dienst verrichten, bricht allmählich eine neue Zeit herein: die Renaissance. Wörtlich übersetzt heißt das »Wiedergeburt«; und wiedergeboren werden soll die vorchristliche Ära der alten Griechen und Römer. In jener Zeit, so meinten die Menschen in der Renaissance, lief nicht alles in bloßer Andacht und allein zur Ehre Gottes ab. Es dominierte vielmehr eine »weltliche« Kunst, in welcher der Mensch sich in seiner eigenen Würde und mit seinen eigenen Fähigkeiten abbildete.

      Ein typischer Renaissance-Künstler ist Leonardo da Vinci: Von ihm stammt nicht nur das bekannte Abendmahl, also eine biblische Szene, sondern auch das »weltliche« Porträt der Mona Lisa. Und er hat allerlei interessante Erfindungen gemacht, die zeigen, wie der Mensch durch kluge Planung seine Umwelt beherrschen kann.

      Nun ist die Musik eine besonders traditionsverhaftete, geradezu langsame Kunst. Als sie sich um 1600 den Ideen der Renaissance mit Entschiedenheit öffnet, ist in den anderen Künsten schon fast alles vorbei. Doch jetzt dreht die Musik auf: Sie will ebenfalls nicht länger nur dienen, nur den Gottesdienst zieren. Zunehmend entstehen Werke, die für das weltliche Leben gedacht sind und unmittelbar das Gefühl ansprechen sollen. Außerdem versuchen sich die Komponisten mit Erfolg an reiner Instrumentalmusik.

      Anstatt wie die Mönche früherer Generationen zu sagen: »In erster Linie machen wir eine komplizierte Kunst zur Ehre Gottes; in zweiter Linie achten wir darauf, dass sie schön klingt«, fordern sie umgekehrt: »Vor allem soll unsere Musik schön klingen und zu Herzen gehen; dass wir damit zugleich Gott ehren, versteht sich dann von selbst!« Den damals entstehenden Stil wird man später »Barock« nennen; hervorgegangen ist er aus dem Wunsch, Renaissance-Ideen nachzuholen.

      Wie gesagt, werden jetzt zwei Kategorien wichtig: Konzert und Generalbass. »Konzert« wird meist mit »Wettstreit« übersetzt. Beim Klavierkonzert etwa »misst sich« der Solist mit dem Orchester; um 1600 aber geht es erst einmal um den »Streit« von zwei Vokalchören, und die frühesten Belege dafür stammen aus dem Markusdom von Venedig. Die »moderne« Kirchenmusik wird dort nicht mehr durch die Schola im Altarraum aufgeführt, sondern von zwei auf unterschiedlichen Emporen postierten Chören – manchmal sind es sogar vier Chöre auf vier Emporen. Sie singen sich wechselseitig zu: Der eine Chor beginnt laut, der andere antwortet leiser. Der eine wird von Violinen begleitet, der andere von Posaunen. Und manchmal wird ein Chor ganz durch ein Instrumental-Ensemble ersetzt.

      Eine solche Musizierpraxis hat zwar Vorbilder in der Psalmodie; vor allem aber kommt sie aus der Volksmusik und vom geselligen Singen her: Die Gruppe der Frauen singt eine Strophe, die Männer antworten mit einer anderen. Oder: Ein Vorsänger beginnt, die übrigen Chormitglieder folgen. Die Struktur derartiger Musik ist vergleichsweise einfach und »natürlicher« als die einer Motette. Zumal viele prächtige Instrumente hinzukommen, macht das Ganze auf die Hörer einen zauberhaften Eindruck.

      Es ist kein Zufall, dass diese konzertante Mehrchörigkeit ihre erste Blüte im Stadtstaat Venedig erlebt hat. Zum einen steht dort wegen des florierenden Überseehandels so viel Geld zur Verfügung wie nirgendwo sonst; man kann daher problemlos eine größere Truppe von Berufsmusikern bezahlen. Zum anderen bedarf es, um auswärtigen Besuchern zu imponieren, repräsentativer Staatsakte.

      Man stelle sich vor, die Stadtregierung hätte die zwei japanischen Prinzen, die 1585 mit ihrem Gefolge zu einem offiziellen Besuch eintreffen, in der Staatskirche von San Marco mit einer zwar kunstvollen, aber auch schwer verständlichen Motette begrüßt, vorgetragen von einer kleinen Schola im Altarraum. Das hätte gewiss weniger Eindruck gemacht als das schon fast plakativ einfache, jedoch höchst effektvolle Musizieren eines modernen vokal-instrumentalen Ensembles. Mit vier Chören sei für die japanischen Gäste musiziert worden, schwärmt noch achtzig Jahre später der Chronist Francesco Sansovino: »Eine neue Bühne wurde für die Sänger errichtet. Zu den beiden bereits vorhandenen Orgeln kam eine dritte; und die anderen Instrumente machten die schönste Musik – mit Hilfe der besten Sänger und Musiker, die man in der Gegend finden konnte.«

      Allerdings lässt sich die Gattung des geistlichen Konzerts nicht allein aus dem Wechselspiel zwischen vokal-instrumentalen Chören oder zwischen einem Chor und einem oder mehreren Solisten erklären. Auch ist es nicht mit dem Hinweis getan, dass eine dem Tanz nahestehende Metrik die Fasslichkeit von Kunstmusik begünstigt. Den Erfolg bringt besonders die neue Dur-Moll-Harmonik. Diese operiert bevorzugt mit der Kadenz, die von den Dreiklängen über der ersten, vierten und fünften Stufe (I – IV – V – I) gebildet wird.

      Vor allem die Kadenzharmonik ist es, welche eine Komposition im modernen Sinne »spannend« macht. Zu ihrer klanglichen Umsetzung bedient man sich des Generalbasses, also einer Instrumentengruppe, welche die Komposition mit einer kontinuierlichen Folge von Akkorden »begleitet«. Dafür finden damals harmoniefähige Instrumente wie Orgel, Cembalo und Laute Verwendung; zur Verstärkung des Bassfundaments geht oft ein tiefes Streich- oder Blasinstrument mit.

      Die vom »Basso continuo« realisierte Dur-Moll-Harmonik kann man mit einem Koordinatensystem vergleichen, das es dem Hörer erleichtert, in einem Musikstück die Orientierung zu behalten, auch wenn kühne harmonische Gänge über Höhen und durch Tiefen oder gar auf Abwege führen. Nicht zu Unrecht hat man ihre Entdeckung mit derjenigen der Zentralperspektive in der Malerei verglichen.

      Im Verlauf des 17. Jahrhunderts verändert die Gattung »geistliches Konzert« ihr Aussehen kontinuierlich. In Deutschland geht man bald zu kleineren, solistischen Besetzungen über – nicht zuletzt im Zeichen des Dreißigjährigen Krieges, der das Musikleben auf eine fast unvorstellbare Weise zum Erliegen bringt. Dennoch sind viele Tausende geistliche Konzerte geschrieben worden – unter anderem von Heinrich Schütz, dem bedeutendsten deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts, und von Dietrich Buxtehude, dem schon erwähnten Lübecker Lehrer Johann Sebastian Bachs.

      Um die Wende zum 18. Jahrhundert wird die evangelische Kirchenmusik um eine neue Gattung bereichert: die Kantate. Die Motette des 16. und das geistliche Konzert des 17. Jahrhunderts waren einteilig gewesen und jeweils über nur eine Textsorte – Bibelwort oder Kirchenliedstrophe – komponiert worden. Nun wünscht man sich mehrteilige Werke mit womöglich verschiedenen Textsorten.

      Doch wer ist »man«? Zunächst sind es die frommen Gottesdienstbesucher: »Zwar wollen wir«, melden sie sich zu Wort, »auf die alten Bibelsprüche und Kirchenlieder nicht verzichten, aber wir möchten auch neu geschaffene Glaubens- und speziell Jesus-Lieder hören. Um solche Lieder mögen die Herren Komponisten ihre geistlichen Konzerte gefälligst verlängern.«

      Das geschieht tatsächlich, ergibt allerdings um die Wende zum 18. Jahrhundert so viel kreatives Durcheinander, dass bald ein Vorschlag von ganz anderer Seite kommt, nämlich von den Vertretern des Adels: »Das ist ja alles schön und gut«, sagen sie ihren Hofdichtern und -komponisten, »doch ihr müsst Ordnung in die Sache bringen und bei der Gelegenheit auch gleich dem modernen Musikgeschmack Rechnung tragen!« Und weil dieser Musikgeschmack von der Oper bestimmt ist, empfehlen sie, eine Kirchenkantate wie eine Oper anzulegen und passende Texte zu dichten, die wie ein Opernlibretto durch den regelmäßigen Wechsel von Rezitativ und Arie gekennzeichnet sind.

      Damit sind wiederum die frommen Christen nicht einverstanden, denn die Oper ist für sie weltlicher Tand. Außerdem – wo bleibt da der Chor, wo ist der Platz für Bibelwort und Choral? An den Adelshöfen und in den Städten einigt man sich auf einen Mittelweg, dem auch Johann Sebastian Bach in vielen seiner etwa zweihundert erhaltenen Kirchenkantaten folgt: Der Kern der Kantate wird nach dem Vorbild der Oper als eine Folge von Rezitativen und Arien über moderne Dichtung gestaltet; den Kopf bildet ein Konzertsatz über ein Bibelwort oder ein Kirchenlied; und am Schluss steht ein schlichter vierstimmiger Choral.

      ÄHNLICH DER ALLGEMEINEN GESCHICHTE der Menschheit ist die Geschichte der europäischen Kunstmusik ein kompliziertes Wechselspiel zwischen Anpassung und Autopoiese, also Selbsterschaffung.

      Das Wort »Anpassung« verweist auf die Einsicht, dass Komponisten ihre Arbeit nicht im luftleeren Raum verrichten, sondern ihrem gesellschaftlichen Umfeld verpflichtet sind. Dieses bestimmt ihre Einfälle


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