Die kürzeste Geschichte der Musik. Martin Geck

Die kürzeste Geschichte der Musik - Martin Geck


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neben Schlagung der Kessel-Drommel zu Tische blasen, sonsten übten sich I. F. G. täglich mit Ringe-Rennen, Spatzieren reiten, mit Tantzen, Mummereyen, Trincken und anderen Uppigkeiten und Kurtzweilen.«

      Angesichts der Unkontrollierbarkeit fahrender Spielleute gingen die mittelalterlichen Städte dazu über, einige wenige Musiker zu »Stadtpfeifern« zu machen und mit Zunft- und Bürgerrechten auszustatten. Dass diese neuen städtischen Bediensteten gern über die angeblich geringe Kunst von »Bierfiedlern« und anderen unsteten Kollegen wetterten, war häufig Ausdruck reinen Neids. Denn so viele Stümper es unter den Fahrenden gegeben haben mag: Die meisten waren in der Welt herumgekommen, hatten viele musikalische Stile kennengelernt und spielten ohne Rücksicht auf verknöcherte Zunftregeln frei und virtuos auf. Bis heute steckt in jedem richtigen Musiker, und sei er noch so etabliert, auch ein Spielmann.

      DAS EUROPÄISCHE MITTELALTER ist ein riesiger Schmelztiegel. Von älteren Hochkulturen unterscheidet es sich durch die erst sehr zögerliche, später jedoch zunehmende Bereitschaft, die Idee einer theologisch und philosophisch abgezirkelten Kunst mit der Virtuosität, Vitalität und Sinnenfreude von Volksmusik zu verschmelzen. Nur auf diese Weise konnte es zu den großen musikalischen Formen, zu der durchkonstruierten und zugleich blühenden Mehrstimmigkeit kommen, die man heute mit dem Etikett »Kunstmusik« versieht.

      Deren Voraussetzung ist eine Notenschrift, die zeit-räumliches und visionäres Denken beflügelte. Oder umgekehrt gesehen: Die Bereitschaft zu einem solchen Denken ist die Voraussetzung für die Entdeckung der modernen Notenschrift gewesen. Hat all das etwas mit dem Wesen des Christentums zu tun? Oder mit dem neuen Wissenschaftsbegriff, der im europäischen Mittelalter aufkommt? Oder mit dem anbrechenden Zeitalter der großen Entdeckungen? Oder mit einer allmählichen Öffnung der Gesellschaft, die sich viele Jahrhunderte später einmal »aufgeklärt« nennen wird?

      Eines jedenfalls ist sicher: Ebenso wenig wie die gotischen Dome der Phantasie eines einzelnen Baumeisters entsprungen sind, ist die mittelalterliche Musik losgelöst von der Gesellschaft denkbar, in welcher sie entsteht. Für jeden, der sich mit mittelalterlicher Musik beschäftigt, gilt somit der provokante Satz: »Wer nur was von Musik versteht, versteht auch davon nichts!«

      »Soli deo gloria« oder

      »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«?

      Von den traditionellen Gattungen der Kirchenmusik

      Beginnen wir mit der Motette. Sie trägt ihren Namen nach dem französischen »mot«, das heißt »Wort«; und das kommt so: Einige der mittelalterlichen Komponisten, die Teile der Liturgie zu einer mehrstimmigen Komposition verarbeiteten, sahen keinen Sinn darin, allen Stimmen denselben Text zu unterlegen. »Wenn es in einem mehrstimmigen Stück schon verschiedene Melodien gibt«, so fanden sie, »sollte es auch verschiedene Texte geben; erst dadurch bekommt jede Stimme ihren eigenen unverwechselbaren Charakter.« Die Bezeichnung »Motette« steht also für die auch textlich eigenständigen Stimmen, welche zum liturgischen »cantus firmus« – meist ein Ausschnitt aus dem gregorianischen Choral – hinzukommen.

      Die ersten solcher mehrtextigen Kompositionen sind nach dem heutigen Stand der Forschung um 1200 in der Komponisten- und Sängerschule der Pariser Kathedrale Notre-Dame entstanden – dem bedeutendsten Zentrum hochmittelalterlicher geistlicher Musik. Obwohl die Komponisten auch dort vor allem Kleriker waren, wurde es ihnen zu langweilig, sich ausschließlich mit gottesdienstlichen Texten und Weisen zu beschäftigen. Vielmehr bezogen sie in ihre Stücke das in Paris kursierende weltliche und volkssprachliche Liedgut mit ein. Manchmal schmuggelten sie geradezu schlüpfrige Texte in ihre geistlichen Werke.

      Im Laufe der Jahrhunderte gelang es den Kirchenoberen allerdings, die Kirchenmusik von solchen Unreinheiten wieder zu säubern. Zur Zeit ihrer Hoch- und Spätblüte unter Giovanni Pierluigi da Palestrina – um die Mitte des 16. Jahrhunderts – ist es dann mit dem Wildwuchs endgültig vorbei: Nicht nur wegen der Ausgewogenheit des musikalischen Satzes, sondern auch wegen der Einheitlichkeit der liturgischen Texte sind Palestrinas Kompositionen ein Muster an Reinheit und Makellosigkeit.

      Wo von »Motette« die Rede ist, meint man freilich nicht nur eine bestimmte Gattung kirchlicher Musik, sondern auch einen bestimmten Kompositionsstil, nämlich die Polyphonie, das heißt »das vielfältig Klingende«. Die zu ihrer Blütezeit meist vierstimmige Motette besteht aus selbständigen, in unterschiedlichen Abständen einsetzenden und pausierenden, oft einander imitierenden Stimmen. In diesem Sinne kann man die Teile der mehrstimmigen Messe – Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus mit Benedictus, Agnus Dei – als Spezialformen der Motette betrachten.

      In der Geschichte von Motette und Messe stoßen wir auf eine lange Reihe von Namen großer Komponisten. Aus dem 14. Jahrhundert ragt Guillaume de Machaut hervor, der vor allem an der königlichen Kathedrale zu Reims wirkte, als Dichter und als Komponist gleich angesehen war und neben seinen geistlichen viele weltliche Werke schuf.

      Die Musik des 15. Jahrhunderts wurde in besonderem Maße durch Guillaume Du Fay geprägt. Er stammte aus der berühmten Sängerschule der Kathedrale zu Cambrai im heutigen Nordfrankreich, stand in Diensten des päpstlichen Hofs sowie des Hofs von Savoyen und lebte zuletzt in seiner Heimat Cambrai. So prominent er seinerzeit war – von seiner Kunst hätte er sich nicht ernähren können. Er war darauf angewiesen, dass ihm seine weltlichen und kirchlichen Gönner gut dotierte Pfründen verschafften. An der Kathedrale zu Cambrai wirkte er nicht nur als Musiker, vielmehr trug er auch für die Weinvorräte des Domkapitels und für notwendige Kanalarbeiten Sorge.

      Ähnliches ist von Josquin des Prez zu berichten. Von den Zeitgenossen ein »Fürst der Musik« genannt, wirkte er als Sänger und Komponist in der päpstlichen Kapelle und danach als Hofkapellmeister in Ferrara, um schließlich im französischen Condé Propst des Domkapitels zu werden. Als solchem unterstanden ihm der Dekan, der Schatzmeister, 25 Kanoniker, 18 Kapläne, 16 Vikare und sechs Chorknaben. Obwohl Josquin des Prez, der 1521 starb, kein Anhänger der Reformation war, wurde er von Martin Luther hoch verehrt. Durch ihn, meinte der Wittenberger Kirchengründer, habe Gott gezeigt, dass man das Evangelium auch durch die Musik predigen könne.

      Palestrina, dessen Musik die Jahrhunderte überdauerte, entstammte ebenfalls der päpstlichen Cappella Sistina, musste diese allerdings verlassen, als Papst Paul IV. nach seinem Amtsantritt im Jahr 1555 dort nur noch Kleriker duldete. Jahrzehnte später heiratete er die wohlhabende Pelzhändlerswitwe Virginia Dormoli.

      Überblickt man die Geschichte der Polyphonie von ihren Anfängen im 9. bis zu ihrer Hochblüte im 16. Jahrhundert und zugleich die Geschichte des Berufsstandes »Komponist«, so stellt man einen erstaunlichen Aufstieg fest: Binnen weniger Jahrhunderte werden aus unbekannten Mönchen, die in ihren Klosterzellen mit der Mehrstimmigkeit oft nur auf dem Papier experimentieren, kleine Musikfürsten mit hohem Ansehen. Darüber darf man freilich nicht vergessen, dass die kunstvolle Kirchenmusik bis ins 16. Jahrhundert hinein einen Luxus darstellt, den sich nur größere Höfe und reiche Kirchen leisten können. In den Dörfern und kleineren Städten kommt davon so gut wie nichts an.

      Auf das Zeitalter der Motette und der Polyphonie folgt ab etwa 1600 dasjenige von Konzert und Generalbass. Die Menschen erleben damals einen gewaltigen stilistischen Umbruch, der nur mit dem Übergang zur »neuen Musik« im 20. Jahrhundert vergleichbar ist. Viele Musikforscher lassen hier die Neuzeit der Musikgeschichte beginnen.

      Schauen wir noch einmal zurück: Die Motette und alle andere mehrstimmige Musik wurden in der Regel von einer kleinen Schola aufgeführt, die sich aus Mönchen und Sängerknaben zusammensetzte. Text und Melodie las man gemeinsam aus einem großen, im Altarraum aufgestellten Chorbuch ab. Musikinstrumente wirkten, wenn überhaupt, in untergeordneter Funktion mit.

      Die »Schola cantorum«, wie man dieses liturgische Ensemble nannte, sang zwar auch zur Freude und Erbauung der Zuhörer, vorrangig aber zur Ehre Gottes. Es war deshalb nicht von entscheidender Bedeutung, ob die Zuhörer dem komplizierten polyphonen Gewebe der Motette wirklich folgen konnten; wichtig war, dass überhaupt kunstvolle Musik erklang.

      Man kann in diesem Zusammenhang an die farbigen Kirchenfenster eines gotischen Domes denken, die manchmal so hoch oben oder an so versteckter Stelle angebracht sind, dass kein Kirchenbesucher


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