Ambulante Pflege in der modernen Gesellschaft. Ruth Ketzer

Ambulante Pflege in der modernen Gesellschaft - Ruth Ketzer


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2005) analytisch entfaltet. Dabei geht es um die Beziehung von Menschen zueinander und gleichermaßen um die fürsorgliche Haltung gegenüber Menschen. Die neun Thesen von Conradi (2001) veranschaulichen die verschiedenen Dimensionen des Begriffs Care, der zum einen eine aktive und handelnde Seite zutage fördert und zum anderen einen deutlich interaktiven Aspekt aufweist. Denn in den Interaktionen zwischen den in der Pflege Beteiligten können Machtverhältnisse unterschiedlicher Art entstehen und beobachtet werden. Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, die der Beitrag aufgreift, ermöglichen eine der Komplexität des Handlungsfeldes angemessene mehrdimensionale Betrachtungsweise. Dabei wird erkennbar, dass der ambulante Bereich kein Stiefkind oder billiger Ersatz des stationären Sektors ist, sondern eine wichtige Säule des Gesundheitswesens, die zunehmend an Bedeutung gewinnen wird.

      Stichwörter: Dasein, Umweltethik, Heimat, Care-Ethik, Pflegetheorien

      2.1 Einführung

      In dem folgenden Beitrag wird eine Konturierung des ambulanten Arbeitsbereiches aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Perspektiven vorgenommen. Der ambulante Arbeitsbereich rückt seit der Einführung der Pflegeversicherung und angesichts des demografischen Wandels immer mehr in das öffentliche Bewusstsein. Das Thema »Pflege zuhause« ist nicht mehr nur die Privatangelegenheit der betroffenen Familien, sondern in den letzten Jahren ebenso eine politische Herausforderung. Die Steuerung der Pflege zuhause unterliegt komplexen Einflüssen. Möglichkeiten, Chancen, Probleme und die daraus resultierenden Konsequenzen werden in diesem Beitrag an dem Fallbeispiel des Ehepaars Meier erörtert. Dabei werden Erkenntnisse aus den umweltethischen, philosophisch-ethischen sowie exemplarische Theorien der Pflege hinzugezogen. Im ersten Teil des Beitrages geht es zunächst um die Betrachtung des ambulanten Arbeitsbereiches mit einem kurzen historischen Überblick.

      Im Anschluss daran wird der Ort, an dem die Pflege stattfindet, einer näheren Betrachtung unterzogen. Dabei gehe ich mit den Begriffen Heimat, Ort, Wohnung, von der These aus, dass es gerade für die ambulante Pflege nicht unerheblich ist, in welchem Umfeld die Versorgung von Patienten stattfindet.

      Die philosophische Perspektive dient dazu exemplarisch an den Weltbildern von René Decartes (1596–1650) und Martin Heidegger (1889–1976) das Verhältnis des Menschen in der Welt darzustellen. Ausgewählte Care-Ethikerinnen sowie Pflegetheoretikerinnen erweitern den Blickwinkel um die ethischen Zusammenhänge zwischen Mensch/Umwelt/Pflege/Gesundheit.

      Der Abschluss des Beitrages bildet eine kritische Auseinandersetzung mit den im Beitrag verwendeten Begrifflichkeiten.

      2.2 Pflege zuhause – Betrachtungen auf ein komplexes Feld

      Zunächst ein kurzer Rückblick. Die Pflege zuhause hat eine lange Tradition. Noch bevor es Krankenhäuser gab, pflegten Familienangehörige (meist Frauen) Kinder oder Großeltern zuhause. Im 17. Jhd. begründete Vinzenz von Paul in Frankreich die Organisation der Barmherzigen Schwestern, die Kranke in ihren eigenen Wohnungen betreuten (Seidler 1980). Im Jahr 1836 gründete Theodor Fliedner in Kaiserswerth den evangelischen Verein für christliche Krankenpflege. Fliedner wollte zunächst höhere Töchter und Pastoren- und Arzttöchter ausbilden. Krankenpflege wurde jedoch zu dieser Zeit von den unteren sozialen Schichten, z. B. von Dienstboten oder Dienstmädchen ausgeführt (Kreutzer 2005). Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert kam die industrielle Revolution und damit die Entstehung des »dritten Sektors« des Non-Profit-Bereichs.

      Durch die Industrialisierung entstanden soziale Probleme in den übervölkerten Städten, es gab keine Betreuung von vulnerablen Randgruppen, wie Kinder, Alte und Kranke, Prostituierte. Die arbeitende Bevölkerung war mit vielen Seuchen und Verwahrlosungen aufgrund von mangelnder Hygiene konfrontiert. Es entstanden die ersten Ansätze von Frauen- und Wohlfahrtsverbänden (DRK, Caritas, Diakonie) sowie die innere Mission (Kramer, Eckart, Riemann 1988). Das soziale Feld war eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen zu arbeiten, da sie keinen Zugang zur männlichen Arbeitswelt in den Fabriken oder für ein Studium in Universitäten bekamen. Unverheiratete Frauen hatten die Möglichkeit in Ordensgemeinschaften einzutreten.

      Im Nationalsozialismus hatten die NS-Gemeindeschwestern den Auftrag, nationalsozialistisches Gedankengut in die Bevölkerung zu bringen (Steppe 1996). Der Schwerpunkt der Arbeit war die Förderung der Volksgesundheit (Arbeit am »Volkskörper«). Die nationalsozialistisch eingebundenen Gemeindeschwestern konnten nach dem 2. Weltkrieg in den westlichen Besatzungszonen in traditioneller Weise weiter arbeiten. Bis in die 1960iger Jahre war die ambulante Pflege von christlichen Ordensgemeinschaften dominiert. Die traditionelle Gemeindeschwester starb jedoch aufgrund des Mangels an Nachwuchs allmählich aus (Brunen & Herold 2001). Es entstand der erste Pflegenotstand. Jens Alber sprach in diesem Zusammenhang von einem »katastrophalen Schwesternmangel« (Alber 1990). Das Thema des Schwesternmangels erreichte auch die Politik und es wurde erstmals über die Absicherung des Pflegerisikos diskutiert (Meyer 1996, Rothgang 1997, Adam-Paffrath 2008). Aus dieser Notlage heraus wurde nach über 20 Jahren politischen Verhandlungen 1995 die Pflegeversicherung eingeführt.

      Heute, nach vielen Reformen der Pflegeversicherung, die zugunsten der Nutzer notwendig waren, hat sich der Arbeitsbereich der ambulanten Pflege verändert. Auf der inhaltlichen Ebene geht es nach wie vor um die Versorgung zunehmend multimorbider Menschen zuhause – allerdings haben sich die Rahmenbedingungen um diese Arbeit durchführen zu können, radikal verändert.

      Zuhause pflegen bedeutet oft, chronisch kranke und alte Menschen über einen längeren Zeitraum zu pflegen. Es geht dabei um eine gelungene Integration der Erkrankung in den Alltag (Austin 2007). In jedem Haushalt kann die pflegerische Versorgung anders aussehen. Die Intensität pflegerisch/medizinischer Interventionen reichen inzwischen im ambulanten Arbeitsbereich von der hochtechnisierten Intensivpflege zuhause bis hin zur palliativen Versorgung. Diese Bandbreite in den täglichen Einsätzen gilt es für das Pflegepersonal zu bewältigen. Es reichen dabei nicht nur entsprechende pflegerische Kenntnisse aus, sondern der soziale Status der Pflegedürftigen und dessen Angehörigen muss mitbeachtet werden.

      Dabei ist die Rolle des Pflegepersonals die von »außen« in den privaten Bereich hineinkommen nicht immer eindeutig geklärt. Viele Pflegende sehen sich in der Rolle des Gastes der jedoch ohne Einladung und ohne Gastgeber in den Haushalt kommt. Im Verlauf einer jahrelangen Versorgung betrachten die Betroffenen Pflegende oft als Familienmitglieder (Ward Griffin 2001, Collopy et al. 1990). Diese Abhängigkeiten sind nicht konfliktfrei. Die professionelle Balance zwischen Nähe und Distanz ist schwer zu halten. Stacey (2005) erwähnt in diesem Zusammenhang die Ausbeutung gerade von ungelerntem Hilfspersonal. In vielen Care Arrangements herrscht eine »Dienstmädchenmentalität«. Chronische Überlastungen beim Pflegepersonal werden durch die hohe Erwartungshaltung der Familien intensiviert (Aronson, Neysmith 1996, Dahl & Erikson 2005).

      Ein weiterer Einflussfaktor ist die Art und Weise, wie Pflege zuhause stattfinden soll. Hier müssen enge Absprachen zwischen Angehörigen, Pflegebedürftigen und der Pflege getroffen werden. Um die Pflege planen zu können, ist das Pflegepersonal auf die Mithilfe der pflegenden Angehörigen angewiesen. Eine »Rund-um-die-Uhr« Versorgung, wie in einem Pflegeheim, kann zuhause nur mit erheblichen zusätzlichen finanziellen Ressourcen durchgeführt werden. Die Frage nach der Finanzierung der Pflege hat im ambulanten Arbeitsbereich ein höheres Gewicht in der Alltagspraxis als z. B. im Krankenhaus. Die Angst der Betroffenen, die Pflege nicht finanzieren zu können, ist allgegenwärtig. Angehörige und Pflegbedürftige müssen entsprechend über anfallende Kosten beraten und aufgeklärt werden (Meagher 2006). Dabei ist die Vorstellung der Politik, mit der Öffnung des Marktes auch die Anbieterpluralität zu erhöhen. Damit haben die vermeintlichen Kunden mehr Auswahlmöglichkeiten von verschiedenen Angeboten (Adam-Paffrath 2008). Die hier politisch gedachte Stärkung der Souveränität des Kunden endet in einer Unübersichtlichkeit des Pflegemarktes sowie in intransparenten Abrechnungsverfahren und ständig wachsender Bürokratie. Dahl und Erikson erwähnen in diesem Zusammenhang den Zwang hin zum souveränen Kunden, der Pflege wie ein Wellnessangebot wählen kann (Dahl und Erikson 2005, Adam-Paffrath 2014, S. 137).

      Professionell Pflegende in Krankenhäusern fragen sich mit Recht oft, wie entlassene Patienten angesichts vielfältiger Einschränkungen diese in ihrem häuslichen Umfeld


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