Zukunft gestalten: JETZT. Jakob von Uexküll
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Als Abgeordnete des Europäischen Parlaments merkten meine Kollegen und ich, dass diese Berufsbezeichnung mehr Eindruck machte, je weiter wir uns von Europa entfernten. So gelang es einem Kollegen, in Thailand die Begnadigung eines zu Tode verurteilten zu erreichen. Als ich im Pazifik-Staat Palau zu einer kontroversen und gewalttätigen Volksabstimmung als Wahlbeobachter entsandt wurde, merkte ich, dass sich meine US-Kollegen nicht aus ihren Hotels wagten, während mir bedeutet wurde, dass ich als Europäer nichts zu befürchten hatte.
Das friedliche Europa von heute, das viele für so selbstverständlich halten, war nie selbstverständlich und ist es auch heute nicht. Viele Jahre lang hatten wir zwar ein vereinigtes West-Europa, aber auch die tägliche Gefahr einer gewollten oder versehentlichen nuklearen Katastrophe. Völker an den Rändern unseres Kontinents, die sich noch nie bekämpft hatten, waren nun bedroht und konnten innerhalb von Minuten ausgelöscht werden in einem Konflikt, auf den sie keinen Einfluss hatten. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde vielen klar, wie viel Glück Europa damals gehabt hatte.
Erinnern wir uns: Bis zum Zusammenbruch der UdSSR waren demokratisch gewählte Politiker in Europa quer durch das politische Spektrum der Überzeugung, dass der Westen auf einen konventionellen Angriff des Warschauer Paktes mit einem atomaren Gegenangriff antworten solle, d.h. unseren Kontinent für Jahrtausende (oder länger) unbewohnbar zu machen!
Dass es nicht dazu kam, verdanken wir nicht ihnen, sondern der Vernunft der nicht-gewählten russischen Politiker angeführt von Präsident Gorbatschow. Aber wie wurde Russland hierfür gedankt? Gab es ernsthafte Versuche auf seinen friedlichen Verzicht auf seine Großmacht-Rolle mit einer Eingliederung in eine neue europäische Friedensordnung zu antworten?
Im Gegenteil: Von NATO- aber auch von EU-Vertretern wurde Anfang der 90er Jahre immer wieder verkündet, der Westen habe den Kalten Krieg gewonnen. Statt vertrauensbildende Maßnahmen umzusetzen, wurden Absprachen ignoriert, und der Westen drängte triumphierend immer weiter nach Osten. Auch aus den verheerenden Folgen der versprochenen NATO-Mitgliedschaft für Georgien vor einigen Jahren wurde nichts gelernt, sondern man wiederholte in der Ukraine denselben Fehler und steht jetzt blamiert da. Die Periode russischer Schwäche ist vorbei – solche Perioden waren historisch immer kurz – und wir Europäer merken, dass die von vielen vergessenen auf uns gerichteten Atomraketen noch immer da sind, noch immer mit „launch on warning“, d. h. sie können innerhalb von Minuten absichtlich oder versehentlich abgefeuert werden. Wie können wir Europäer zulassen, dass einige wenige Atommächte so mit uns umgehen, ohne dass es einen Aufschrei gibt gegen ihre Weigerung, ihre vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen und atomar abzurüsten? Wer bedroht Europa am meisten? Die theoretischen iranischen Atomwaffen – oder die tatsächlichen auf Europa gerichteten?
Man ist nicht voreingenommen, wenn man die historische Einmaligkeit Europas sieht. Kriege und Kolonialismus sind Teile dieser Geschichte, aber auch der Aufbau von Demokratie, Mitbestimmung und Rechtsstaatlichkeit durch politisches Engagement der Bürger, d. h. nicht als Gabe eines Herrschers.
Die Vereinigung streitender Kleinstaaten gelang den Briten in Indien, und die Indische Union – die größte Demokratie der Welt – besteht noch heute. Aber in Afrika und Lateinamerika bestehen fast alle von Europäern gezogenen Kleinstaaten-Grenzen fort. Der Respekt vor anderen Kulturen führt manchmal dazu, dass das Ausmaß des europäischen Einflusses übersehen wird. Zum Beispiel hören wir viel vom kommenden asiatischen Zeitalter und dem globalen Einfluss Chinas – aber selten, dass die derzeitig herrschende chinesische Ordnung nicht etwa auf Konfuzius und Laotse baut, sondern auf zwei europäische Denker namens Marx und Lenin! Nachdem Europa der Welt durch Nazismus und Faschismus gezeigt hatte, wie leicht verwundbar und umkehrbar auch unsere hochgelobte Zivilisation war, und wie schnell unvorstellbare Barbareien sich ausbreiten können, fühlten sich europäische Politiker nach 1945 besonders verpflichtet, Demokratie und Menschen-rechte zu sichern, und der Welt ein positives Beispiel zu geben. Auf keinem anderen Kontinent gibt es heute ein entsprechend ausgebautes und ausgewogenes System von Institutionen und Rechten zum Schutz des Individuums. Aber jetzt muss Europa eine noch wichtigere Vorreiterrolle wahrnehmen. Denn ohne eine gesunde natürliche Umwelt nützen uns Menschenrechte wenig. Es kann kein Recht auf etwas geben, was nicht möglich ist, und der europäische Pro-Kopf-Verbrauch von Ressourcen z. B. ist weltweit nicht möglich. Weil das so ist, ist diese Lebensweise auch in Europa nicht mehr zu rechtfertigen.
Bisher konnten wir Fragen der gerechten weltweiten Verteilung von Wohlergehen und Lebensqualität immer mit dem Hinweis auf Wachstum und den technischen Fortschritt beantworten, der uns Europäer in den letzten 100 bis 200 Jahren so viel reicher gemacht hat. Aber offensichtlich haben wir von der globalen Substanz gelebt. Die Globalisierung hat die Grenzen des Wachstums hinausgeschoben, da wir in den ökologischen und ökonomischen Raum anderer Länder hineinwachsen konnten. Da das, was wir konsumieren zunehmend billig (und schmutzig) in Asien hergestellt wurde, konnten wir lange behaupten, der Club of Rome sei mit seinen Warnungen zu pessimistisch gewesen.
In Wirklichkeit sind viele Grenzen des Wachstums weltweit schon überschritten, was auch in Europa in den nächsten Jahren – spätestens Jahrzehnten – sehr klar werden wird, obwohl wir noch – wie in den Monaten vor den beiden Weltkriegen – glauben, es wird im Großen und Ganzen weitergehen wie bisher. Man merkt in der öffentlich-politischen Debatte in Europa noch wenig von den enormen Herausforderungen und Veränderungen, die auf uns und unsere Kinder zukommen.
„Die Natur spielt verrückt“, sagte mir kürzlich jemand, der in Norddeutschland auf dem Lande lebt. Auch dort ist das zunehmende Klima-Chaos schon für diejenigen spürbar, die sich in der Natur auskennen. Aber die größte Bedrohung für unsere gemeinsame Zukunft findet in Afrika statt. Während man sich in Europa über steigende Zahlen politischer Flüchtlinge aufregt, wird von dort in den nächsten Jahrzehnten etwas auf uns zukommen, was unsere Vorstellungskraft weit übersteigt. Nicht ein Öko-Fundamentalist sondern der ehemalige Chef des Internationalen Währungsfonds, Michel Camdessus, warnte kürzlich nach einer Afrika-Reise, dort würden immer größere Gebiete durch den Klimawandel so schnell unbewohnbar, dass in den nächsten Jahrzehnten damit zu rechnen sei, dass 200 Millionen – ich wiederhole: 200 Millionen – Afrikaner versuchen werden, nach Europa zu kommen, weil sie zu Hause nicht mehr überleben können. Auch wenn ein Teil davon unterwegs umkommt – was zu befürchten ist – wird auch der ankommende Rest zunehmend nicht nur afrikanische sondern auch europäische Staaten unregierbar machen. Demokratie, Menschenrechte, Frieden, Lebensqualität und Sicherheit in Europa sind bedroht, weil wir auf den globalen Klimawandel nicht ernsthaft reagiert haben. Das Ziel, diesen auf durchschnittlich +2 °C zu begrenzen, ist nicht mehr machbar, wenn wir jetzt nicht radikal umsteuern, statt unsere Hoffnung in technische Phantasien zu setzen. Bei +4 °C, auf die wir zurzeit zusteuern, ist keine Anpassung mehr möglich, warnt u. a. der führende deutsche Klimaexperte Prof. Schellnhuber.
Es geht jetzt um Entscheidungen von uns, die über Tausende von Generationen nachwirken werden. Während Pessimisten wie Prof. Giddens, Autor von „The Politics of Climate Change“, befürchten, unsere Erde könne unbewohnbar werden wie der Planet Venus, sehen auch Optimisten unsere Zivilisation, Errungenschaften und Hoffnungen bedroht.
Eine häufige Antwort darauf lautet, wir Europäer täten ja schon viel, aber es würde alles nichts nützen, wenn die Chinesen nicht radikal umsteuern, was nicht zu erwarten ist, denn auch sie wollen einen europäischen Lebensstandard.
Aber europäische Lebensstandards sind weltweit unmöglich – das weiß auch die chinesische Regierung. Und viele CO2-Emissionen dort entstehen auf Grund der Produktion für europäische Verbraucher.
Wir reden in Europa viel über Rechte, aber es gibt keine Rechte ohne entsprechende Pflichten und Verantwortlichkeiten. Dies ist eine sehr unbequeme Wahrheit. 1998 berief der damalige UNESCO-Direktor Federico Mayor eine internationale Kommission, die eine Deklaration über menschliche Pflichten und Verantwortlichkeiten – analog zur UN-Menschenrechtsdeklaration – erarbeitete. Mayor plante, die Erklärung erst der UNESCO und dann der UNO zur Diskussion und Verabschiedung vorzulegen. Aber sie wurde schon im UNESCO Executive Committee blockiert, denn die Mehrheit – angeführt von den USA – wollten von Pflichten und Verantwortlichkeiten nichts wissen.
Daher