Handbuch ADHS. Группа авторов
wurde nicht in allen Interviewstudien der Faktor der psychosozialen Beeinträchtigung bzw. der Funktionstüchtigkeit berücksichtigt. In Studien mit dem DISC wurde beispielsweise nach der Bestimmung der Diagnosen in einem speziellen Interviewabschnitt zusätzlich die Funktionstüchtigkeit mit der Children’s Global Assessment Scale (CGAS) (Shaffer et al. 1983) erfasst. Dabei wurde in der Regel ein Trennwert festgelegt, der eine klinische Behandlungsbedürftigkeit impliziert (in der Regel ein CGAS-Wert < 70). Wo dies geschah, sanken die Prävalenzraten entsprechend ab.
Trägt man der Vielzahl der methodischen Einflussfaktoren auf die Bestimmung von Prävalenzraten für ADHS Rechnung, so müssen die ermittelten Daten zwangsläufig eine gewisse Heterogenität aufweisen, wie im Folgenden gezeigt wird.
3.3 Prävalenzraten
Die Prävalenz von ADHS ist vornehmlich bei Kindern und Jugendlichen, in neuerer Zeit, aber auch in einer Reihe von Felduntersuchungen an Erwachsenen erhoben worden. In einer ersten Meta-Analyse aller verfügbaren internationalen Studien im Kindes- und Jugendalter über mehrere Jahrzehnte mit unterschiedlichsten Kriterien wurde zunächst eine weltweite mittlere Prävalenzrate von 5,3 % berechnet (Polanczyk et al. 2007), der die Rate von 5,25 % in einer Schweizer Studie im Kanton Zürich am nächsten kam (Steinhausen et al. 1998). Auch in der deutschen BELLA-Studie betrug die Prävalenz auf der Basis von DSM-IV-Kriterien 5 %, während sie bei Anwendung der strengeren ICD-10-Kriterien auf 1 % absank (Döpfner et al. 2008).
Die umfangreichste und neueste Meta-Analyse auf der Basis einer noch größeren Zahl internationaler Studien kommt sogar auf eine mittlere Prävalenzrate von 7,2 % (Thomas et al. 2015). Eine weitere neuere Übersichtsarbeit hat die Ergebnisse von sieben systematischen Übersichten zur internationalen Prävalenz von ADHS in Felduntersuchungen zusammengefasst und eine Spannbreite zwischen 2,2 und 7,1 % ermittelt, wobei der mittlere Wert bei 5 % liegt. Mindestens weitere 5 % der Probanden weisen Probleme mit Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsschwäche und Impulsivität auf, die unterhalb der diagnostischen Schwelle liegen (Sayal et al. 2018).
Die systematische Analyse von 135 internationalen Studien hat zudem gezeigt, dass die Variation in den Prävalenzraten von ADHS wesentlich von der Methodik der Erhebung und nicht von der geografischen Lage oder dem Jahr abhängt, in dem die Studien realisiert wurden. In dieser Analyse wurde eine weltweite Prävalenz von 5 % ermittelt und es fanden sich keine Hinweise auf eine Zunahme der Prävalenz in den letzten drei Dekaden (Polanczyk et al. 2014). Auch der vom Robert-Koch-Institut durchgeführte KiGGS-Studie zur Kinder- und Jugendgesundheit fand keine Zunahme in der Prävalenz zwischen der Basiserhebung 2003–2006 und der ersten Folgeerhebung 2009–2012 (Schlack et al. 2014).
Erst relativ spät sind international Populationsstudien an Erwachsenen mit hinlänglicher Stichprobengröße durchgeführt worden. In der nationalen Komorbiditätsstudie in den USA wurde bei mehr als 3.000 Teilnehmern (18–44 Jahre) eine Prävalenz von 4,4 % erhoben, wobei die Mehrheit unbehandelt war, andererseits aber viele Betroffene wegen anderer komorbider psychischer Störungen behandelt worden waren (Kessler et al. 2006). Eine noch größer angelegte internationale Studie in Nord- und Süd-Amerika, Europa und dem Mittleren Osten an mehr als 11.000 Teilnehmern (18–44 Jahre) ermittelte eine Prävalenzrate von 3,4 %, wobei die Prävalenz in Ländern mit niedrigerem Einkommen bei 1,9 % und in Ländern mit höherem Einkommen bei 4,2 % lag (Fayyad et al. 2007). Hinsichtlich des Behandlungsstatus kam diese Studie zu gleichen Ergebnissen wie die nationale Komorbiditätsstudie in den USA. Eine deutsche repräsentative Erhebung an 1.655 Erwachsenen im Altersbereich 18–64 Jahren fand eine Prävalenz von 4,7 % für ADHS, wobei die Diagnose mit jüngerem Alter, niedrigem Bildungsstatus, Arbeitslosigkeit, Partnerlosigkeit und ländlichem Wohnsitz positiv korrelierte (de Zwaan et al. 2012).
3.4 Einflussfaktoren auf die Prävalenz
Drei zentrale Faktoren haben Einfluss auf die Prävalenz, nämlich Geschlecht, Alter und Sozialschicht. Die ausgeprägte Dominanz des männlichen Geschlechts bei ADHS in klinischen Stichproben findet auch in Feldstichproben ihre Entsprechung. In den Fragebogen-Studien variiert das Geschlechterverhältnis zwischen 1,5- und 5,8-mal und in den Interview-Studien zwischen 1,8- und 5,1-mal mehr Jungen als Mädchen. Im Mittel liegt das Geschlechterverhältnis bei 2–3 zu 1 (Sayal et al. 2017). In Studien mit klinischen Stichproben spielt bei der noch ausgeprägteren Dominanz des männlichen Geschlechts in erster Linie die komorbide Aggressivität eine Rolle, weil sie die Zuweisung zur Untersuchung und Behandlung befördert. Auch in der amerikanischen und der internationalen Studie an Erwachsenen (Kessler et al. 2006; Fayyad et al. 2007) wurde die Dominanz des männlichen Geschlechts bei ADHS nachgewiesen.
Hinsichtlich untersuchter Alterseffekte dokumentieren sowohl die Fragebögen- als auch die Interview-Studien mehrheitlich, dass die Prävalenzraten vom Alter abhängig sind. Dabei liegen allerdings in den Fragebogen-Studien bisweilen komplexe Interaktionen mit dem Subtyp oder dem Informanten vor. In den Interview-Studien ist der Alterseffekt vergleichsweise deutlicher hervorgetreten. Studien an Kindern im Schulalter zwischen 6 und 13 Jahren (Almqvist et al. 1999; August et al. 1996; Rohde et al. 1999; Steinhausen et al. 1998) haben höhere Prävalenzraten zwischen 5,3 und 9,6 % ermittelt als Studien an Vorschulkindern mit 2,0 % (Lavigne et al. 1996) und an Adoleszenten mit Raten zwischen 2,6 und 4,9 % (Fergusson et al. 1993; Schaughency et al. 1994; Verhulst et al. 1997). Systematische Datenanalysen innerhalb verschiedener Studienkohorten haben ferner einen Rückgang der Prävalenzraten mit zunehmendem Alter dokumentiert (Breton et al. 1999; Cohen et al. 1993; Gomez-Beneyto et al. 1994). Allerdings kommen ältere Kinder bzw. Jugendliche auch seltener in die Versorgung (Sayal et al. 2018).
Schließlich sind die Prävalenzraten deutlich von der Sozialschicht abhängig. Die Übersichtsarbeit von Sayal et al. (2017) kommt zu der Feststellung, dass ADHS in sozial benachteiligten Familien 1,5–4-mal häufiger als bei höherem sozioökonomischem Status zu beobachten ist und entsprechend seltener in Versorgungssystemen vorgestellt wird. Eine neuere US-amerikanische Studie hat eine bemerkenswerte Interaktion von Sozialschicht und positiver elterlicher Anamnese für ADHS aufgezeigt. Unter Kindern ohne elterliche ADHS-Anamnese lag bei niedrigem Einkommen eine sechsfach erhöhte Wahrscheinlichkeit für ADHS vor, die sich auf das zehnfach erhöhte, wenn eine positive elterliche Anamnese für ADHS und niedriges Einkommen vorlagen (Rowland et al. 2018). Auch die in Deutschland durchgeführte KiGGS-Studie bestätigt eindrucksvoll diesen Befund (RKI 2008).
3.5 ADHS-Subtypen
Während in klinischen Studien der kombinierte Typ von ADHS deutlich häufiger als die isolierten Subtypen der Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS) oder der Hyperaktivitäts-Impulsivitäts-Störung diagnostiziert wird (Lahey et al. 1994), haben mehrere Feldstudien ergeben, dass der Subtyp mit Aufmerksamkeitsdefizit am häufigsten vorkommt und für etwa 50 % der auf der Basis von Lehrer-Informationen diagnostizierten Fälle zutrifft (Baumgaertel et al. 1995; Gaub und Carlson 1997; Gomez et al. 1999; Wolraich et al. 1998; Wolraich et al. 1996). Dabei sind Mädchen mit Geschlechterverhältnissen von 2:1 bis 3:1 (Jungen zu Mädchen) relativ häufiger von ADS als von dem hyperaktiv-impulsiven Subtyp mit Geschlechterverhältnissen von 3:1 bis 7:1 betroffen.
Hinsichtlich der assoziierten Probleme liegen gewisse Ähnlichkeiten in klinischen und Feld-Stichproben vor. Klinisch ist der kombinierte Typ mit stärkerer Funktionsbeeinträchtigung und komorbiden externalisierenden Störungen verbunden, während eine isolierte ADS stärker mit komorbiden internalisierenden Störungen und Problemen des Lernens und der Kognitionen einhergeht (Lahey et al. 1994). Auch in den Feldstudien haben sich diese Verbindungen von Symptomen der Unaufmerksamkeit mit internalisierenden Symptomen sowie Problemen im schulischen Bereich gefunden, während die Symptome von Hyperaktivität-Impulsivität eher mit externalisierenden Symptomen einhergingen (Baumgaertel et al. 1995; Gaub und Carlson 1997; Wolraich et al. 1998; Wolraich et al. 1996).
3.6 Komorbiditäten
Das Vorliegen einer koexistierenden Störung bei ADHS ist in der Klinik eher die Regel als die Ausnahme (