TEXT + KRITIK 227 - Lukas Bärfuss. Группа авторов
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TEXT+KRITIK.
Zeitschrift für Literatur
Redaktion:
Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel
und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96
Print ISBN 978-3-96707-110-8
E-ISBN 978-3-96707-112-2
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Lukas Bärfuss
Das Ulmensterben
Raphael Urweider
Luki
Judith Gerstenberg
Trotzdem. Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2019 an Lukas Bärfuss
Gregor Dotzauer Aufatmen im Gegenwind. Das Phänomen Lukas Bärfuss
Tom Kindt »Ins Gelächter führen«. Komik bei Lukas Bärfuss
Oliver Lubrich Kolonialismus als Metapher
Victor Lindblom Ist es wirklich so schlimm? Zur Fiktionalität und Erzählkonzeption von Lukas Bärfuss’ »Koala«
Marta Famula »Diese Konkretion empfinde ich als das wirklich Grausame« Das Skandalon des Sterbens in Lukas Bärfuss’ Drama »Alices Reise in die Schweiz«
Ralph Müller Essayistische Tugenden bei Lukas Bärfuss
Anke Detken Ästhetik der Verantwortlichkeit. Laudatio auf Lukas Bärfuss anlässlich der Lichtenberg-Poetikdozentur Göttingen
Peter von Matt Ästhetik der Konfrontation. Über die künstlerische Strategie von Lukas Bärfuss
Thorsten Ahrend Lieber Lukas...
Dana Kissling / Victor Lindblom Auswahlbibliografie
Lukas Bärfuss
Bevor ich mich einer bestimmten Art der Ascomycota widme, will ich die Aufmerksamkeit kurz einer Sache zuwenden, die mich seit einigen Jahren immer wieder beschäftigt. Sie betrifft eine gewisse literarische Form, die weit verbreitet ist und der ich neulich in der Form einer Kurzgeschichte begegnet bin.
Als mein Blick mir am Ende eines langen und arbeitsreichen Tages nach leichter Zerstreuung war, fiel ich im Bücherregal zufällig auf einen Band, den ich vor zwölf oder mehr Jahren aus der Wühlkiste meiner Buchhandlung gefischt, bisher aber nicht gelesen hatte. Auf drei Dutzend Seiten lernte ich jetzt eine junge Frau kennen, die mit ihrer asthmatischen Schwester in einer namenlosen Provinz lebt. Die Eltern längst tot, die Aussichten auf eine Heirat gering mit täglich abnehmender Tendenz, besteht ihre einzige Möglichkeit, ein paar Stunden der Enge ihres Daseins zu entkommen, in den Theateraufführungen, die sommers in einer nahe gelegenen Stadt gegeben werden. Alle Jahre besucht die Frau diese Vorstellungen mit glühendem Herzen und lässt die kranke und argwöhnische Schwester derweil einen Sonntagnachmittag alleine.
Nach einer Vorstellung von Shakespeares »As You Like It« und mit dem Kopf immer noch bei Rosalind und Orlando im Wald von Arden, vergisst unsere Heldin in der Toilette des Theaters ihre Handtasche. Geld, Fahrkarte, Schlüssel: unauffindbar. Tränen, Angst, Verzweiflung: die Heldin nun an jenem Punkt, den man in Hollywood Plot Point nennt.
Auftritt Hund, Rasse Dobermann, er hat sich losgerissen, daher gefolgt von einem Mann. Kurzer Dialog auf den Treppen des Theaters, danach Spaziergang in seinen Laden, in dem er werktags Uhren repariert. Er serviert der jungen Frau nun ein karges, aber schmackhaftes Mahl aus Gulasch und Rotwein, das als frugal zu bezeichnen, die Autorin vermeidet. Geplauder über dieses und jenes. Während der Dobermann artig in einer Ecke wartet, stellt sich bald eine Vertrautheit ein. Später am Abend begleitet der Mann sie zum Bahnhof, wo er ihr die Karte für die Rückfahrt kauft. Beim Abschied auf dem Schotter am Ende des Bahnsteigs schenkt er ihr den ersten Kuss ihres Lebens und nimmt ihr das Versprechen ab, nach Ablauf eines Jahres dasselbe grüne Kleid anzuziehen, denselben Zug zu besteigen und seinen Laden mit den Uhren aufzusuchen. Was dort geschehen soll, wird nicht gesagt, aber die Aufregung, die das arme Wesen nun die nächsten zwölf Monate auf Trab hält, lässt vermuten, dass die Verheißung nicht in einem weiteren Teller des ungarischen Rindereintopfs besteht.
Die Erzählung ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, man liest sie mit angehaltenem Atem und will natürlich wissen, ob die Heldin ihren Uhrmacher tatsächlich wiederfindet, wie sie es ihrer hilflosen und asthmatischen Schwester beibringen und welcher Art das Unglück sein wird, das unweigerlich zuschlagen muss. Glücklich enden diese Geschichten nie. Die Erzählung, übrigens, ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, und so sehr ich die Autorin für ihre Handwerkskunst bewundere, scheint mir diese Erzählung ein prototypisches Beispiel für einige der grundlegenden und potenziell tödlichen Gefahren der zeitgenössischen Literatur zu sein, die, wenn sie sich nicht von diesem stilistischen Efeu befreit, daran ersticken wird.
Damit man mich richtig versteht: Es liegt nicht an dieser spezifischen Geschichte. Sie steht nur als Exempel. Man findet dieselbe Manier bei allen Erzählungen dieser Autorin, die übrigens mit einigen hohen, ja den allerhöchsten Ehrungen ausgezeichnet wurde. Das Problem beschränkt sich gleichfalls nicht auf die Autorin. Wäre dies der Fall, würde ich keine Zeit damit verlieren, denn es müsste genügend Auswahl geben, um auch für meinen Geschmack das Passende zu finden. Nein, dieses Genre und seine Konventionen haben mittlerweile eine horizontale, vertikale und damit hegemoniale Verbreitung gefunden. Nur deshalb nehme ich mir Zeit und Mühe, um in aller Kürze und bevor ich auf das eigentliche Thema komme, das Problem in seinen Grundzügen darzulegen.
Zuerst: Diese Literatur überlässt der Psychologie das alleinige Primat. Die sozialen, ökonomischen, politischen Bedingungen der handelnden Figuren werden höchstens nebenbei erwähnt und im Ungefähren belassen. Die erzählerische Anstrengung gilt alleine dem Versuch, die Grenze des Mentalen zu überschreiten und das Problem der Qualia für einen kurzen Augenblick aufzuheben. Bekanntlich weiß niemand, wie es ist, ein anderes als das eigene Bewusstsein zu besitzen, und jeder Versuch, diese erkenntnistheoretische Grenze zu überwinden, gehört in den Bereich des Fantastischen, eine Eigenschaft, die deshalb wesensmäßig zu dieser Art von Literatur gehört.
So führt sie in aller Regel eine beliebige Person ein und beginnt, diese so lange vor unseren Augen ihrer gesellschaftlichen Hüllen zu entkleiden, bis sie nackt vor uns steht. Und wie weiland die Leichen im anatomischen Theater, so liegen alsbald