TEXT + KRITIK 227 - Lukas Bärfuss. Группа авторов

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Begierden, Gedanken und Affekte dieser Heldin freizulegen. Die Erzählerin besitzt zu diesem Zwecke nicht nur ein literarisches Seziermesser, mit dem sie jede Schutzschicht wie etwa Selbsttäuschung, Lebenslügen und falsches Gerede beiseiteschafft – sie verfügt darüber hinaus über einen fantastischen Röntgenapparat, der das unsichtbare Geschehen aufzeichnet und ins Bild rückt. So wandelt diese arme Heldin nach wenigen Seiten seziert und bis auf die Knochen entkleidet durch ihre provinzielle Existenz. Den Augen der fiktiven Figuren bleiben diese Vivisektionen allerdings verborgen. So heißt es etwa in jener Erzählung über unsere Heldin: »Die Mühe, die sie darauf verwendet hat, es geheim zu halten, war vielleicht gar nicht erforderlich, angesichts der Meinung, die die Leute sich von ihr gebildet haben – die Leute, die sie jetzt kennt, irren sich darin genauso gründlich wie die Leute, die sie vor langer Zeit kannte.«

      Man braucht hier nicht zu wissen, was diese Person geheimhalten will oder muss, und es ist ebenfalls einerlei, worin die Leute irren: Entscheidend ist die deutliche und unüberbrückbare Trennung zwischen dem Wissen der Leserin und jenem der Figuren. Nur wir Leser erkennen sie als zerfledderten Rest einer pathologischen Untersuchung. Alle anderen, ob Protagonist oder Antagonist, haben davon keine Ahnung und behandeln sie auch weiterhin wie eine der ihren.

      Natürlich findet diese Behauptung keine Grundlage in der Wirklichkeit. So wie in Schauergeschichten Vampire empfindlich gegen Sonnenlicht sind und in der Science-Fiction Raumschiffe schneller als das Licht reisen, handelt es sich hier um eine Konvention des Genres. Während sich dort der Leser niemals fragt, ob diese Behauptung in den Bereich der Wirklichkeit oder der Hirngespinste gehört, behauptet dieses Genre einen Realismus, eine dokumentarische Haltung. Niemals bringt diese Literatur ihre eigene Fantastik zum Bewusstsein. Hier wird nichts erschaffen und nichts konstruiert, hier wird bezeugt, und deshalb unternimmt diese Belletristik alles, um den Anschein der Natürlichkeit zu bewahren und ihre Künstlichkeit zu verbergen. Sie kaschiert jede Nahtstelle und hängt die Mechanik ab. Ihre hauptsächlichen Instrumente, Retuschierpinsel und Concealer, versteckt sie schamhaft, und obwohl gerade in der Fabriziertheit ihre Kraft liegen würde, fürchtet sich diese Erzählform vor der eigenen Puppenhaftigkeit und es bleibt die Frage, was eigentlich der Grund für die Angst ist.

      Weil ich die Sache nicht unnötig verlängern und endlich zu Ceratocystis novo-ulmi wechseln will, darf ich summarisch auf jene Erzähltheoretiker verweisen, die bereits vor langer Zeit definierten, dass nur jemand zum Helden werden kann, der mit aller Kraft ein bestimmtes Ziel verfolgt, er muss nach etwas streben, das er vorderhand nicht in die Hände bekommt. Die zur Frage stehende Literatur weiß noch davon, aber es gibt für ihre Heldinnen kein Abenteuer mehr. Die Gesellschaft, in der sie leben, hat dies nicht vorgesehen, im Gegenteil, ihre Absicht besteht gerade darin, durch den Fortschritt alle Fährnisse von ihren Bürgern fernzuhalten. Und weil es keine Gefahr gibt, fehlt ebenso die Entscheidung zwischen Erlösung und Untergang. Alles was den Heldinnen bleibt, ist ein langsames Absterben. Es gibt keinen Konflikt mehr, und weil das nicht hinzunehmen ist, weil es nämlich die Bedeutungslosigkeit der Heldin und damit gleichzeitig der Erzählung beweisen würde, wird behauptet, dass sich der Konflikt in die Innenwelt der Figuren verlagert habe und es nun unter den interessierten Blicken einer zugewandten Leserschaft die erste Aufgabe der Erzählerin sei, ihn von dort zu befreien und ans Tageslicht zu befördern. Allerdings bleibt auch dies, da es ja ein Vorgang ist, der nur für die Leser sichtbar ist, für die Dramaturgie weiterhin wirkungslos. Die Lösung für dieses narrative Dilemma liegt in einer Epiphanie, in der Erscheinung des Göttlichen, des Transzendenten. So bricht früher oder später unweigerlich die Metaphysik in eine Existenz, in der es dafür weder Form noch Sprache gibt. In der nämlichen Erzählung besteht dieser Einbruch darin, dass dieser Mann nach dem verstrichenen Jahr unsere Frau, die pünktlich in einem zwar anderen, aber immerhin grünen Kleid in seinem Laden erscheint, wortlos ins Gesicht schlägt. Zerstört kehrt die Frau zu ihrer kranken Schwester zurück, die irgendwann stirbt, aber sie bleibt trotzdem unverheiratet, hat hier und da eine Affäre, aber leidet doch ihr ganzes Leben lang an dieser Kränkung. Schließlich erfährt sie durch Zufall, dass jener Mann, der sie geschlagen hat, überhaupt nicht der übrigens längst verstorbene Uhrmacher, sondern sein taubstummer und eineiiger Zwilling war und sie also, so die Schlussfolgerung des gebildeten Lesers, ihr Leben ebenfalls im Wald von Arden verbracht hatte, ohne jemals den Weg nach draußen zu finden.

      Und so ist der Fluchtpunkt aller perspektivischen Hilfslinien dieser zur reinen Manier, zum toten Stil herabgesunkenen Literatur, jenes Gefühl, das uns am Ende der Lektüre mit jenem typischen Kloß im Hals zurücklässt und das darüber hinaus die bürgerliche Gesellschaft grundiert, die unstillbare Sehnsucht nämlich.

      Gemeinsam mit ihren dargestellten Figuren ersehnt diese Literatur die Erfahrung und damit das Leben, und weil es niemals geschieht, weil überhaupt nichts geschieht, spricht, wer diese Art von Literatur verteidigt, gerne über »Atmosphäre«, flüchtet sich in »die Stimmung«, in »das, was ungesagt bleibt«. Sie verzichtet auf eine historische Situation, arbeitet allerdings exzessiv mit dem Kolorit einer Epoche. So wird in dieser Erzählung ganz zu Beginn eine gewisse Jacqueline Kennedy erwähnt, besser gesagt ihre Frisur, die unsere Heldin nachahmt. Wer diese Person ist, wird nicht erklärt. Die Autorin geht stillschweigend von einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund aus, der durch die Erwähnung eines toupierten Schopfs eine Kaskade von stereotypen Bildern auslöst: bestimmte Automobile, eine besondere Art von Musik, eine Kulisse, in der wir eine bestimmte Zeit erkennen sollen, ohne länger darüber nachzudenken. Es handelt sich hier um eine weitere Andeutung, die ihre spezifische Funktion zu spielen hat. Diese Erzählung ist zum ersten Mal im Jahre 2004 erschienen, das heißt, nach den Anschlägen vom 11. September 2001, in einer Zeit also, die von einer großen Verunsicherung geprägt war. Niemand wusste, in welche Richtung sich die gesellschaftliche Entwicklung bewegen würde. Die fünfziger und frühen sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, also jene Epoche, da die gesellschaftliche Revolution von 1968 die Übersichtlichkeit und die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen noch nicht eingerissen hatte, waren zu einer Zeit geworden, die ein Mensch jener Tage mit nostalgischen Gefühlen betrachtete. Es geht nicht um die Analyse einer Epoche, es geht um das Gefühl der Sehnsucht, und ihre belletristische Produktion folgt alleine den Gesetzen eines bestimmten Marktes.

      Ein literarischer Text im Spätkapitalismus muss, ganz im Einklang mit den Forderungen an irgendeine andere Ware, viel versprechen und wenig halten. Es ist sein Fetischcharakter, der ihm seinen Wert gibt. Der Fetisch steht für das Abwesende, das nicht Verfügbare. Der literarische Text darf nicht vollständig verstanden werden. Das Erzählen flüchtet sich deswegen in die Allegorie, in das andere Bild, in die Andeutung, den Verweis, damit wir dort als Leser ein Geheimnis vermuten, das niemals zur Sprache kommen kann und das wir ersehnen. An nichts leidet der bürgerliche Mensch so sehr, wie an der Entzauberung seiner Existenz. Diese erzählerische Tendenz, diese Flucht vor der Klarheit und der Verständlichkeit findet vorderhand keine Korrektur, im Gegenteil, es scheint so etwas wie eine Eskalation zu geben. Je eindeutiger die unliterarischen Genres werden, je mehr sie sich den absoluten Kategorien von Thriller und Porno angleichen, desto mehr flieht die sogenannte Belletristik ins Ungefähre. Das ist der Platz, der dieser Literatur geblieben ist, die Funktion, die sie noch zu erfüllen hat, und es scheint sehr gut möglich zu sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Leserinnen und Leser die Literatur des ausgehenden zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts als grotesk empfinden werden, nicht durch die Überzeichnung, sondern durch die exzessive Langweile.

      Aber genug davon, nun endlich zu Scolytus scolytus und seinem Reifefraß, der am Anfang dieser Tragödie steht.

       Raphael Urweider

       Luki

      Ich kam Anfang der neunziger Jahre als zwanzigjähriger arroganter Bieler nach Bern. Arrogant, weil wir in Biel besser wussten, was Musik ist, Bern hatte den Rock, wir hatten den Freejazz und den Jazzfunk, den Rockabilly, den Punk. Bern hatte die Mundart, und Mundart war provinziell. Wir hatten Englisch und Französisch.

      Bern hatte auch etwas Prosa, wir, also ich und meine viel älteren, also vier Jahre älteren Freunde, hatten die Poesie. Wir machten Lesungen mit Musik, Improvisationen zu Gottfried Benn, Günther Eich, Trakl und anderem, was im Gymnasium


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