Offenheit. Jaqueline Scheiber
Die Vision eines neuen Gebäudes
Es stellt sich die Frage: Wohin führt diese Welle der Offenheit in der Gesellschaft? In meiner Utopie fühlen sich Frauen nicht mehr unter Druck gesetzt, den perfekten Körper zu haben, sie müssen nicht unzählige Produkte kaufen, um einem Ideal zu entsprechen, das nur in der Theorie existiert. Männer können ihr toxisches Rollenbild loslassen, in dem sie Beschützer oder Erhalter zu sein haben. In meiner Vorstellung wird jeder und jedem der Platz zuteil, den er oder sie benötigt. Menschen müssen ihre psychische Erkrankung nicht verheimlichen, denn sie gehört zu den Dingen, die das Leben manchmal mit sich bringt, und selbst wenn sie unsichtbar ist, ist sie nichts Unheimliches. Sie ist keine Form von Schwäche oder ein Zeichen des Aufgebens, sie ist eine von vielen möglichen Variablen einer Biografie. Wie jede andere Erkrankung auch. In meiner Utopie fällt es nicht schwer zu scheitern, zwei, drei oder vier Anläufe für etwas zu benötigen, ohne Scham, denn in meiner Utopie steht es uns frei, Dinge zu versuchen, bis sie klappen. Erfolg wird nicht daran gemessen, wie viel Geld am Konto liegt oder wie beliebt jemand ist, sondern daran, ob man sich dort wohlfühlt, wo man gerade steht. Es spielt keine Rolle, wie und ob man jemanden liebt, mit wem man zusammen ist und welchen Nachnamen man trägt. Herkunft ist eine Geschichte, die man nicht fürchtet, jenen anzuvertrauen, die einem nah sind, denen man sich begreiflich machen will.
Doch leider ist meine Utopie bisher bloß eine Utopie. Sie ist ein Märchen innerhalb der Zwänge eines Systems, das es noch nicht zulässt, wahre Gleichberechtigung walten zu lassen. Zu schwer wiegen finanzieller Druck, eingefahrene Muster, konservative Einstellungen. Zu sehr verharren wir alle in unseren Hamsterrädern und darin, andere zu verurteilen, auszubeuten und einen eigenen Vorteil aus dem Nachteil anderer zu schlagen.
Wie kann man gesellschaftlichen Wandel nun vorantreiben? Ich glaube, man kann als Beispiel vorangehen, man kann sich durch radikale Offenheit von vorherrschenden gesellschaftlichen Normen, Schönheitsidealen oder der Art und Weise, wie mit einem Schicksalsschlag umzugehen ist, lösen und aus der Reihe tanzen.
Ich würde die Form beinahe als aktivistisch beschreiben, in der mein Umfeld und ich uns gegen Annahmen stemmen, die uns von klein auf mitgegeben wurden. Die Menschen, die ich heute als Freund*innen bezeichne, sind meiner Ansicht nach allesamt in ihrer Einstellung und Weltanschauung revolutionär. Sie überwinden täglich alte Muster und gesellschaftliche Grenzen, indem sie sich sichtbar machen. Sie pflegen einen ähnlichen Habitus, sind Kunstschaffende oder Journalist*innen, aktivistisch oder in ihrem Radius für mehr Akzeptanz und Toleranz tätig. Das gibt mir Hoffnung, denn selbst wenn an jeder Ecke Baustellen lauern, Benachteiligungen ausgespielt werden und Leistung gemessen wird, wächst auch eine Generation heran, die nicht ziellos mit ihrer Offenheit waltet. Dabei fällt oft das Stichwort „Medienkompetenz“ – es benennt die Fähigkeit, verantwortungsvoll mit dem eigenen Output in die Welt umzugehen und dabei nicht außer Acht zu lassen, dass jegliche Veröffentlichung Konsequenzen und Verantwortung mit sich bringt. Nach und nach entwickeln sich Sensibilität für schlechter Gestellte, ein Bewusstsein für Veränderungsprozesse und Initiativen, um theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen. Das Leben, das wir führen, ist längst nicht mehr ausschließlich privat. Es ist politisch, aktiv und Teil einer Bewegung.
Wie Offenheit heute gedacht wird oder gedacht werden kann, wird einen enormen Einfluss darauf haben, wie wir zukünftig miteinander umgehen. Sie wird der Nährboden für Empathie und Bereicherung sein. Und vielleicht trägt sie dazu bei, dass Teile meiner Utopie wahr werden können. Wichtig ist dabei: Die passive Rolle der Offenheit nimmt einen viel größeren Raum ein als die aktive. Denn zu all den Menschen, die eine Bühne bedienen, braucht es Menschen, in denen Themen nachklingen und die diese weitertragen. Es ist immer die Gemeinschaft, das Publikum, es sind die Zwischentöne und Kommentare, die ein Bild färben und letztlich prägen.
Das beginnt mit Verständnis, einem offenen Ohr und ungeteilter Aufmerksamkeit.
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