Coyote. Jens-Uwe Sommerschuh
durchkriechen, die Linnet offenbar wahlweise dazu diente, die oberen Bibliotheksbestände zu sichten oder ins Bett zu gelangen.
Die zwei Quadratmeter vor dem Fenster teilten sich ein Miniatur-Schreibtisch mit Grünpflanze, Computer und Musikdeck auf der einen Seite und ein Kassettenregal auf der anderen, in dem sich schätzungsweise zehntausend Tapes drängten. Dazwischen ragten meterhohe Bücherstapel wie Wolkenkratzer auf, die Straßenschluchten waren mit teils eng beschriebenen, teils lässig vollgekrakelten Blättern zugeschneit, und es gab einen dreibeinigen Schemel, auf den ich nicht gelangen würde, ohne eines der Literaturgebäude zum Einsturz zu bringen.
Auf einem der Stapel thronte ein uraltes Telefon, eins noch mit Hörer und Gabel. Ich erspähte die Nummer und prägte sie mir ein. Neben dem Apparat lag ein Brief ohne Marke und Absender, adressiert an Linnet Marquis. Gedankenlos schob ich ihn in die Jackentasche, ein Reflex meiner Neugier, die Handschrift war mir bekannt vorgekommen.
Die Boxen beiderseits des Fensters hingen hoch genug, um auch die Träume da oben zu beschallen. Jetzt lief ganz leise ein Stück von Codeine, den Meistern der Zeitlupe, etwa das, was Schnecken hören würden, die es heftig mögen, aber Hektik verabscheuen. Auf dem Poster überm Schreibtisch war ein Dreimaster, der durch eine Meerenge Kurs aufs offene Meer nahm.
»Das ist das Golden Gate«, sagte Linnet, »lange vor dem Bau der Brücke.«
Ich fuhr herum, ich hatte sie nicht kommen hören. Sie stand vor mir mit einem Tablett, auf dem es aus zwei Tassen dampfte.
Sie zog ein ratloses Gesicht. »Verflixt, wie lösen wir das jetzt? Es ist hier einfach zu eng für so viel Besuch.«
»Küche?«, schlug ich vor.
»Nee, du darfst den anderen nicht über den Weg laufen. Hier wohnen nämlich noch zwei … zwei sehr empfindliche Frauen. Ich verstoße jetzt sowieso schon gegen sämtliche Grundsätze. Halte mal!«
Sie drückte mir das Tablett in die Hand, schob mich sanft von der Leiter weg und quetschte sich an mir vorbei. Sie taxierte den Schreibtisch, als hätte sie ihn lange nicht gesehen und vergessen, was da los war.
»Was soll’s«, meinte sie und erklomm die Leiter.
Ich schaute ihr nach, den heißen Kaffee vorm Bauch, und hielt den Atem an, denn die Beine unter dem roten Hemd, die wurden immer länger, die reichten für eine endlose Sekunde bis zu ihrem Kinn. Sie fuhrwerkte kurz da oben rum. Gewiss versteckte sie ihren Plüschteddy. Dann erschien ihr Kopf über der Reling, sie streckte die Arme aus, endlich war ich den Kaffee los und konnte freihändig um Beherrschung ringen, reiner Glücksfall, wenn noch was in den Tassen war.
»Willst du da unten Wurzeln schlagen?«
Stumm schlüpfte ich aus den Schuhen und bestieg das unbekannte Plateau. Eine Kaffeeterrasse, redete ich mir ein, nichts weiter.
Linnet empfing mich mit kritischem Blick. Das karierte Hemd war immer noch schief zugeknöpft, auch wenn inzwischen ein Knopf aufgegangen war. Gern hätte ich das in Ordnung gebracht.
Ich hockte mich ans Fußende, falls das Kissen, auf dem sie saß, das Kopfkissen war. Dieses Hochland war ein weißer Fleck auf der Landkarte meiner Erfahrungen. Wenn ich die Hand ausstreckte, konnte ich den Himmel berühren.
»Jetzt bist aber du dran«, raunte Linnet. »Erzähl mir, welches Gespenst dir erschienen ist. Sag mir, was geschehen ist, dass du dich in deiner Not traust, den blütenweißen Ruf eines unbescholtenen Mädchens aufs Spiel zu setzen. Weißt du, dass das hier eine absolute Premiere ist? Abgesehen vom Computerdoktor, als meine Festplatte krank war, hat noch nie ein männliches Wesen auch nur die Schwelle zu dieser Kammer überschritten. Die ganze Wohnung ist praktisch eine männerfreie Zone. Meine Mitbewohnerinnen verarbeiten dich zu Hackfleisch, wenn die was spitzkriegen. Das sind orthodoxe Lesben, die nicht verstehen können, dass die Pharmaindustrie Tierversuche unternimmt, solange es noch Männer gibt. Aber sie sind ganz nett. Die eine hat sogar ein Meerschweinchen. Und wenn sie gekifft haben, schlafen sie tief. Trotzdem … trotzdem ist die Situation ziemlich daneben. Erzähl mir eine gute Geschichte, scheue keinen Aufwand, damit ich begreife, wieso du hier bist. Damit ich irgendwann den Fakt auf die Reihe kriege, dass diese Nacht die Nacht ist, in der ich einen Mann im Bett habe.«
Für ein Mädchen, das hier ausnahmslos alleine schlief, war das ein geräumiges Bett. Nicht sehr lang, aber fast genauso breit, und wenn ich Heerscharen von Kuscheltieren vermutet hatte, dann ließ sich der Verdacht nicht halten. Hier gab es außer Bettzeug und Wecker nur Bücher, Bücher über Bücher. Wild verstreut lagen zehn, zwölf Bände rum, darunter The Bone People der Neuseeländerin Keri Hulme, Sexus, Plexus und Nexus von Henry Miller und, wie ich erstaunt registrierte, The Abortion von Richard Brautigan. Das war nicht ganz das, was ich bei einer erwartet hatte, die es vor der Ehe nicht tun würde.
Die dem Bücherregal zugewandte Seite des Bettes hing an zwei armdicken Ketten, deren oberste Glieder in Haken eingelassen waren, die früher gewiss einen Galgen geziert hatten. Die andere Bettseite war mit der Wand verschraubt. Ich schloss die Augen und erzählte Linnet eine gute Geschichte.
Sie handelte davon, wie einer zu drei Stelldicheins gebeten wurde und zu zweien zu spät kam, während … Die Geschichte handelte von Sonnenbrillen, Schneidezähnen und einer Beerdigung. Sie war noch nicht zu Ende. Die Handlung würde sich wohl bald nach Mexiko verlagern.
Als ich endete, hatte ich Linnet alles erzählt – mit einer kleinen Ausnahme. Sharon Vicarious Morton kam in meiner guten Geschichte nicht ganz so oft und beileibe nicht so direkt vor wie in meiner Wirklichkeit, und wenn es so klang, als wäre sie nur eine Geschäftspartnerin, dann war mir das recht.
Draußen wurde es schon hell. Ich warf einen Blick auf Linnet. Sie hatte sich wie eine Katze zusammengerollt, die geschlossenen Lider zitterten ein wenig, sie atmete gleichmäßig. Ich fasste es nicht. Sie war eingeschlafen.
Der Kaffee war kalt geworden. Ich trank beide Tassen leer. Ich merkte, wie fertig ich selber war. Behutsam ließ ich meine Jacke in den Abgrund gleiten, streckte mich am äußersten Rande des Hochplateaus im Lakenschnee aus und versank augenblicklich.
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