Das Jahrhundert des Populismus. Pierre Rosanvallon

Das Jahrhundert des Populismus - Pierre  Rosanvallon


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mit Füßen tritt; der Begriff »Neoliberalismus« fasst dabei in einem Wort die politische und soziale Kultur der »Kaste« zusammen. In einem allgemeineren Sinne könnte man sagen, dass das Wort »Volk« doppelgesichtig ist wie Janus. Es knüpft an den Gedanken einer gewissen moralischen Größe an, während es zugleich die finstersten Hassgefühle rechtfertigt.8 Es konstruiert das politische Feld auf eine Weise, dass der Gegner nur ein Feind der Menschheit sein kann. Es dient dazu, dem Unglück einen Namen zu geben und zugleich den Weg zu einer gewissen Art von Wandel zu weisen.

      1Vergleiche dazu die Ausführungen in meiner Vorlesung von 2018 am Collège de France.

      2Ich erlaube mir, auf mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France zu verweisen.

      3Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, S.16–17.

      4Ernesto Laclau, »Logiques de la construction politique et identités populaires«, S.151. Dieser Text besteht aus Exzerpten von On Populist Reason und stellt eine gute Zusammenfassung seines Buches dar.

      5Ebd., S.152.

      6Siehe seinen Artikel »Ernesto Laclau: le seul et vrai théoricien de populisme de gauche«, Éléments, Nr. 160, Mai-Juni 2016.

      7Siehe sein Gespräch mit Marcel Gauchet in: Philosophie Magazine, Nr. 124, Oktober 2018 (Gauchet hatte gerade Robespierre, l’homme qui nous divise le plus, veröffentlicht). Siehe auch sein mit Cécile Amar verfasstes De la vertu.

      8Die Wahrung der eigenen Identität und Würde kann sich beispielsweise in einer Ablehnung als »fremdartig« geltender Religionen äußern (vor allem des Islam).

      9Diesen Titel hat Chantal Mouffe einem gemeinsam mit der Nummer zwei von Podemos in Spanien verfassten Buch gegeben (Chantal Mouffe/Íñigo Errejón, Construir Pueblo; frz. Construire un peuple).

      10Daher die geringe Aufmerksamkeit, die den Gewerkschaften seitens der populistischen Bewegungen zuteilwird.

       2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar

      Die Populismen sehen sich selbst in der Perspektive einer demokratischen Erneuerung. Sie machen deshalb den bestehenden Demokratien, der Art, wie sie praktisch und theoretisch konzipiert sind, den Prozess. Demokratien, die man als liberal-repräsentative bezeichnen könnte. Liberal, insofern sie Verfahren und Institutionen eingeführt haben, um der Gefahr von Mehrheitstyranneien vorzubeugen, indem sie der Garantie der persönlichen Integrität und Autonomie einen zentralen Stellenwert einräumen. Es handelt sich in den meisten Ländern um verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Wahrung der Individualrechte und zur Einschränkung der gesetzgebenden Macht oder um unabhängige Behörden zur Kontrolle der Exekutive oder sogar zur Ausübung mancher ihrer Befugnisse. Repräsentativ, weil sie auf dem Gedanken einer Volksmacht beruhen, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den Prozess der Selektion und Bestätigung der Verantwortlichen durch Wahlen beschränkt. Das populistische Demokrativerständnis versucht, eine Alternative zu dieser Auffassung zu entwerfen, und zwar auf Grundlage der Infragestellung dieser beiden als reduktionistisch beurteilten Interpretationen des demokratischen Ideals.

      Die populistische Auffassung von Demokratie weist in diesem Sinne drei Charakteristika auf. Sie versucht zunächst, die direkte Demokratie zu privilegieren, vor allem durch die Vermehrung von Volksabstimmungen; sie vertritt ferner das Projekt einer polarisierten Demokratie, indem sie den undemokratischen Charakter nicht gewählter Behörden und Verfassungsgerichte kritisiert. Sie glorifiziert schließlich, und das ist der Kernpunkt, eine unmittelbare und spontane Auffassung des Volksausdrucks.

       Der Kult des Referendums und das Lob der direkten Demokratie


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