Warum musste Abel sterben?. Anselm Grün
eine zu heile Welt versprochen. Mit beiden Sichtweisen tun sich Menschen heute schwer. Die Worte vom Gericht erzeugen Angst und Widerstand, die der Verheißung hinterlassen dagegen Zweifel im Leser. Das scheint alles allzu schön zu sein. Man fühlt sich eingelullt von diesen Versprechungen einer heilen Zukunft. Doch beides gehört nicht nur zur Bibel, es entspricht auch der Erfahrung des Menschen, der in der Spannung zwischen Gericht und Heil, Abbruch und Aufbruch, Scheitern und Wiederaufstehen steht.
So wünschen wir den Lesern und Leserinnen, dass die Auslegungen der alttestamentlichen Texte ihren Glauben vertiefen. Wir hoffen, dass sie dabei helfen, das eigene Leben mit neuen, ehrlichen Augen zu sehen, die vor den Abgründen des Lebens nicht zurückschrecken, aber auch mit hoffnungsvollen Augen, die für uns mit all unseren Brüchen und Fragmenten eine gute Zukunft sehen.
In diesem Sinne wünschen wir eine gute, befruchtende und heilsame Lektüre!
Bernd Deininger, Anselm Grün
Bernd Deininger
Die Wurzel von Schuld und Angst · Genesis 3,1–24
Im 3. Kapitel des Buches Genesis wird die grundsätzliche Frage beantwortet, was den Menschen aus dem Paradies treibt. Das Paradies steht hier für Glückseligkeit, ewiges Leben, Konfliktlosigkeit, ewige Liebe, das Spüren der Nähe Gottes. Die Bibel tut dies verdichtet in einem Ursprungsmythos, damit sich in unserem inneren Erleben ein Bild darstellt, in dem sich jeder Mensch wiederfinden kann.
Die Geschichte handelt nicht von einem historischen Menschenpaar, das uns als Adam und Eva bekannt ist, sondern die Intention des Autors ist, dass wir darin die Geschichte eines jeden einzelnen Menschen wiedererkennen können, also auch unsere eigene. Um diese mythische Geschichte zu verstehen, ist es hilfreich, aus der Erzählung symbolhaft Einzelnes herauszugreifen.
Beginnen wir mit der Schlange. Es handelt sich hier um ein mythisches Tier, ein Symbol. Und was sie zu sagen hat, lässt sich ganz unmittelbar in unserem eigenen Inneren abbilden. Aus der Erzählung selbst wissen wir noch nicht, was es mit der Schlange auf sich hat. Wir erfahren lediglich, dass sie zur Schöpfung Gottes gehört. Es gibt Mythen, in denen die Schlange als ein Symbol des Bösen betrachtet wird. Wenn sie jedoch zur Schöpfung Gottes gehört, ist das mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, geht der Leser der Bibel doch davon aus, dass Gott von sich aus nichts Böses erschafft. Diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung für alles, was im Folgenden weiter zu betrachten ist.
Wenn wir uns die Geschichte der Bibel vor Augen halten, dann scheint es so, als ob von dieser Schlange alles Unglück und Unheil auf den Menschen herabkommen würden. Der Mythos versichert uns aber auch: Selbst wenn das Konflikthafte den Menschen hinabzieht in den inneren Widerspruch zu sich selbst, zur Welt und zum Schöpfer, darf nie aus dem Blick geraten, dass die Macht, durch die es geschieht, nicht aus dem Bereich der Schöpfung Gottes herausfällt. Unter diesem Blickwinkel kann das Böse, das der Schlange zugeschrieben wird, nicht so angenommen werden. Das Einzige, was der Text uns auf die Schlange bezogen deutlich sagt, ist ein Eigenschaftswort: listig war sie, listiger als alles, was Gott sonst auf Erden geschaffen hatte. Dieses kleine Eigenschaftswort ist in der Tat sehr wichtig, damit wir zu einem tieferen Verständnis über die Schlange kommen können. Denn wenn diese Aussage stimmt, dann liegt der Ursprung des sogenannten Bösen in einer Selbstüberlistung, die dem Handelnden so aber vielleicht nicht bewusst ist. Das würde bedeuten, dass endgültig Abschied genommen werden muss von jeder Art des Redens über das Böse im Menschen. Wenn wir das Ganze rein moralisch betrachten, kann man sagen: Die Menschen sind böse, weil sie böse sein wollen. Die Folge ist, dass es in unterschiedlicher Weise Schutzmaßnahmen geben muss, die den Willen des Menschen zum Guten anhalten. Das würde aber bedeuten, dass die Welt klar getrennt ist in richtig und falsch sowie gut und böse.
Die Erzählung in Genesis 3 weist uns aber immer wieder darauf hin und beschwört uns geradezu, so nicht zu denken. Es gibt viele Menschen, die in das, was wir mit »böse« bezeichnen, hineingezogen werden, und das, was sie getan haben, oft überhaupt nicht tun wollten. Bei der Aufarbeitung des Genozids in Ruanda an den Tutsi wurde darüber oft in den Versöhnungsdörfern, die 20 Jahre danach gegründet wurden, gesprochen. Viele Hutus, die zu Tätern wurden und nun in Gruppen den Opfern gegenübersaßen, sagten: »Das, was wir getan haben, haben wir eigentlich gar nicht tun wollen.«
Daher ist es wichtig, den Menschen gerade aufgrund solcher Geschehnisse und im Hinblick auf den Genesis-Text als einen Betrogenen, einen Hereingelegten zu betrachten. Wenn wir solchen Gedanken folgen, dann gäbe es die Chance, nicht nur die Tragödie vom Hinauswurf aus dem Paradies zu verstehen, sondern auch viele andere Tragödien, die sich in der Menschheitsgeschichte ereignet haben. Der Genesis-Text möchte eine Vision menschlichen Zusammenlebens einerseits und des inneren Erlebens des Menschen andererseits geben. Es geht darum, Verstehen zu üben statt Verurteilung, Einfühlung statt Ausstoß, um dann die Furcht vor Verurteilung ablegen zu können, damit wir ehrlich mit uns selbst und anderen umgehen.
Das sogenannte Böse beginnt in dieser Geschichte ganz harmlos. Die Schlange richtet eine Frage an die Frau. Häufig heißt es in den Übersetzungen aber: »Gott hat wohl gar gesagt, ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?« Dann ist es aber eher eine Behauptung, die zum Widerspruch anregt. Doch so wird es nicht gemeint sein. Denn das sogenannte Böse würde sich dann in die Beziehung zwischen Gott und die Menschen hineinschleichen, indem es sich einfach nach dem erkundigt, was Gott gesagt hat. Das wird man doch dürfen? Ein Nachdenken über das Gotteswort, was könnte unverdächtiger erscheinen? Wäre es denn vorstellbar, dass Gott eine ganze Welt erschaffen hat, wunderschön und stimmig, und hätte gleichzeitig den Willen gehabt, einen Menschen dort hineinzusetzen, nur um ihn mit einem Verbot zu quälen? Wäre der Mensch dann nicht ein Gefangener der göttlichen Einschränkung? Wenn dies eine Möglichkeit ist, nach Gott so zu fragen, steht dann nicht Gott selbst infrage? Wenn wir uns in die Lage eines Menschen einfühlen, dem sein Gott, sein Untergrund, auf den er vertraut, fragwürdig wird, dann können wir die Unsicherheit und Angst spüren. Es ist, als wenn einer, der sich in der Liebe geborgen fühlt, plötzlich in Zweifel gestürzt wird, ob er dem geliebten anderen vertrauen kann oder ob er der Betrogene ist. Dann entstehen Eifersucht und Hass. Wenn einem Menschen Gott fragwürdig wird, geschieht im Grunde noch viel Schlimmeres. Er fällt aus jeder Sicherung heraus.
Diese Möglichkeit wird hier von der Schlange aufgezeigt. Ein einziges Gebot hat Gott erlassen, aber auf diesem Gebot, dessen Sinn wir eigentlich noch nicht verstehen, liegt plötzlich der Schatten eines Verdachts: Es könnte sein, dass Gott den Menschen um ein bestimmtes Glück bringen will, und zwar mit Absicht, um ihn in seinen Möglichkeiten einzuschränken. Wenn es diese Möglichkeit gibt, verändert sich die Beziehung zu Gott vollkommen und sieht völlig anders aus, als man bis dahin angenommen hat. Dann wäre Gott nämlich selbst zwiespältig und unheimlich, möglicherweise sogar bösartig und gefährlich.
Was kann ein Mensch bei solchen Voraussetzungen und Möglichkeiten tun? In unserem Text ist es die Frau, die das Entscheidende unternimmt. Sie ist es, die sich auf die Seite Gottes schlagen will, indem sie das Gebot Gottes noch einmal wörtlich formuliert: »So hat der Schöpfer gesprochen, von allen Bäumen im Garten dürft ihr (»selbstverständlich« muss man hinzufügen) essen, nur von dem Baum in der Mitte des Gartens, hat er gesagt, esst davon nicht.« Etwas später heißt es dann im Text, dass die Frau genau das tun wird, was sie eigentlich für nicht denkbar hielt und dessen sie sich innerlich verweigerte.
Sie zitiert das Gotteswort buchstäblich mit einer einzigen, aber dadurch alles verändernden Abwandlung: »Gott hat gesagt«, so legt sie dem Allmächtigen in den Mund, »rührt an diesen Baum überhaupt nicht, denn sonst werdet ihr sterben«. Was ist geschehen, dass sie das Wort Gottes so, wie es gesagt wurde, gar nicht wiederholen kann, sondern etwas hinzufügt, eine Radikalisierung: »Rührt nicht daran!« Was könnte dahinterstecken?
Eine Handbewegung würde genügen und Gott stünde bereit. Er wäre wie ein Rächer und könnte den Menschen vernichten. Das würde bedeuten, Gott ist an dieser Stelle der Erzählung nicht mehr der Beschützer und Erhalter des menschlichen Lebens, sondern es wäre ihm zuzutrauen, dass er den Menschen für ein geringes Vergehen verurteilt und vernichtet. Die gesamte Beziehung zwischen Gott und Mensch wäre dann plötzlich durchtränkt von einer überdimensionalen Angst. Mehr noch: Der Mensch