Flucht aus dem Adventskalender. Harry Voß

Flucht aus dem Adventskalender - Harry Voß


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so minderwertig hergestellt ist, dass die Bewohner schon bei der leichtesten Berührung des Hausbesitzers aus ihren Betten kippen und in den Keller fallen!“

      „Leichteste Berührung würde ich das nicht nennen“, rief Frau Stern, die unter der ersten Reihe der Schokoladentäfelchen auf dem inneren Rand des Pappkartons lag. „So, wie der an dem Haus gerüttelt hat – das hält der stärkste Hausbewohner nicht aus!“

      „Wie Sie sehen, hab ich es ausgehalten“, gab Herr Stiefel zurück. „Ich bin eben aus zähem Leder genäht!“

      Herr Schneemann rümpfte seine Schokoladenmöhrennase: „Aus zähem Schokoladenleder, was?“

      „Sie hat keiner gefragt“, raunzte Herr Stiefel zurück.

      Herr Schneemann verschränkte seine Arme: „Wie spät ist es eigentlich?“

      „Fünf Uhr“, antwortete Frau Uhr ein Stockwerk tiefer.

      „Ich glaub, ich spinne“, regte sich Herr Schneemann auf. „Fünf Uhr war es doch vor zwei Stunden schon, als ich das letzte Mal gefragt habe!“

      „Bei ihr ist es immer fünf Uhr“, brummte Herr Stiefel. „Ihre Uhr ist aus Schokolade, die kann nicht funktionieren.“

      „Ich verbitte mir solche Unterstellungen!“, schimpfte Frau Uhr. „Vor zwei Stunden habe ich gesagt, es ist fünfzehn Uhr, Herr Schneemann! Fünfzehn Uhr bedeutet drei Uhr Nachmittag. Wenn Sie die Uhr beherrschen würden, dann wüssten Sie das!“

      „Ruhe da oben!“, unterbrach sie Frau Ente. „Er kommt!“

      Die Zimmertür war bereits weit geöffnet. Schritte näherten sich dem engen Haus. „Die Zwei“, murmelte der Junge, der gestern mit Flo angesprochen worden war, und zwei Sekunden später: „Ach, da!“

      Der Besitzer Flo lehnte wieder seine flache Hand an das Haus. Es knirschte. Frau Blume und Herr Zwerg versuchten, sich mit letzter Kraft an ihrer Sitzschale festzuhalten, aber dann stürzten sie schreiend ab und landeten unsanft neben Frau Stern im Keller. Die Tür mit der Nummer Zwei wurde aufgerissen, Herr Mond aus seinem Bett gepult.

      „Tschüss, Herr Mond!“, rief Frau Ente.

      „Der größte Tag meines Lebens!“, jauchzte Herr Mond. Dann verschwand er im Reich des großen Schokoladengenießers.

      „Mama, ein Mond!“, rief der Junge mit vollem Mund seiner Mutter zu, während er das Zimmer verließ.

      „Na toll“, kam es von Frau Blume aus dem Keller. „Morgen bin ich dran! Und wie soll der Besitzer mich hier unten finden?“

      Keiner im Haus antwortete.

      „Ich bin am Sechzehnten dran“, erklärte Herr Zwerg, der sich mühsam aufrichtete und neben Frau Blume setzte. „Ich hab noch etwas Zeit, um nach oben zu kommen.“

      „Wie schön für Sie. Und wissen Sie auch schon, wie Sie bis dahin nach oben kommen wollen?“

      „Nein. Aber ich habe ja noch 14 Tage Zeit, mir das zu überlegen.“

      „Ich kann Ihnen jetzt schon verraten, Herr Zwerg, dass Sie es nicht schaffen werden! Sehen Sie Ihren Platz da oben im zweiten Stock? Wie um alles in der Welt wollen sie da hochfliegen?“

      Herr Zwerg lächelte. „Das weiß ich auch nicht. Aber Sie riechen gut, Frau Blume.“

      Frau Blume stöhnte laut auf. „Ich bin nicht in diesen Adventskalender gekommen, um mich von einem Zwerg anquatschen zu lassen. Ich bin hier, um in das gelobte Land zu kommen: in das große und ewige Reich des Schokoladengenießers.“

      „Ich auch, Frau Blume.“

      „Mein ganzes Leben träume ich davon, eins zu werden mit dem großen BLUBB des Schokoladengenießers!“

      „Ich auch, Frau Blume, ich auch!“

      Frau Blume schaute verklärt nach oben: „Auf der Zunge macht es HMMMM. Im Hals macht es AAAAH. Und dann gehen alle Schokoladentäfelchen auf im großen, ewigen BLUBB des Schokoladengenießers.“

      „Ich könnte Ihnen ewig zuhören“, schwärmte Herr Zwerg.

      Frau Blume stellte streng ihre Blütenblätter auf: „Und damit ich das nicht verpasse, Herr Zwerg, muss ich jetzt sofort nach oben kommen! Sonst gibt es kein ‚Hm’ und kein ‚Ah’ und kein BLUBB! Weder für mich, noch für Sie! Verstanden?“

      3. Dezember

      Auch am nächsten Tag saßen Frau Blume, Frau Stern und Herr Zwerg noch immer im Keller ihres Hauses.

      „Ich möchte nach oben!“, jammerte Frau Stern. „Aber ich kann nicht fliegen!“

      „Ich kann fliegen“, bemerkte Frau Ente. „Aber ich weiß nicht, ob ich Sie alle tragen kann. Ich bin nicht so stark.“

      „Oh, würden Sie das versuchen?“ Frau Sterns Leuchten wurde stärker und sie klatschte begeistert in ihre Zacken. „Vielen Dank!“

      Frau Blume schaute nach oben: „Da wäre ich ja wohl als erstes dran! Bitte, liebe Frau Ente, wären Sie so freundlich, mich nach oben zu fliegen? Oder Sie, Fräulein Engel?“

      „Ich würde ja gerne“, antwortete Fräulein Engel aus dem Erdgeschoss. „Aber ich bin auch nicht so stark.“

      „Ich bin stark“, donnerte Madame Eisenbahn plötzlich. „Ich kann zwar nicht fliegen, aber ich kann fahren. Und ich hab jede Menge Dampf in meinem Kessel. Ich hol Sie da raus, aber nur unter einer Bedingung!“

      „Unter welcher?“, riefen Frau Blume, Frau Stern und Herr Zwerg gleichzeitig.

      „Dass Sie danach endlich mit Ihrem Gequatsche aufhören! Ich möchte mir nicht andauernd das Gejammer von zwanzig anderen Hausbewohnern anhören müssen!“

      „Versprochen!“, rief Frau Blume.

      Madame Eisenbahn setzte sie sich in Bewegung. Mit lautem Geklapper verließ sie ihren Platz, ratterte zum Rand des Hauses, dann den schmalen Papprand nach unten. „So. Alles einsteigen!“

      Frau Stern leuchtete vor Aufregung. Sie setzte sich auf und ergriff mit einem Zacken das Fenster der Eisenbahn.

      „Sie bluten“, stellte Frau Blume angewidert fest und zeigte auf eine dunkle Pfütze an der Stelle, an der Frau Stern bis eben noch gelegen hatte.

      „Nein, nein“, beruhigte sie Frau Stern. „Wenn ich aufgeregt bin, dann leuchte ich. Wenn ich leuchte, dann werde ich warm. Und wenn ich warm bin, dann beginne ich zu schmelzen.“

      „Ach du Schreck. Dann halten Sie Ihre Aufregung bitte zurück. Sie verschmieren hier alles.“ Frau Blume stieg auf die Eisenbahn und hielt sich am Wasserkessel fest. Herr Zwerg stellte sich hinten auf das Trittbrett.

      In diesem Augenblick öffnete sich die Zimmertür. Der Hausbesitzer kam herein.

      „Das hat mir gerade noch gefehlt“, jammerte Frau Blume. „Bitte beeilen Sie sich, Madame Eisenbahn!“

      „Schneller als schnell kann ich nicht“, trötete Madame Eisenbahn und startete mit viel Dampf und Geratter ihre Fahrt. „Sie sind ziemlich schwer, wenn ich das mal sagen darf.“

      „Ich bin eine Blume, ich wiege so gut wie nichts!“

      „Herr Zwerg ist es, der hier so schwer ist“, sagte Frau Stern. „Er soll aussteigen.“

      Die Schritte kamen näher. „Hm, die Drei“, murmelte der Hausbesitzer.

      Herr Zwerg ließ die Eisenbahn los. Im Fallen stieß er an Frau Laterne und riss sie mit. Frau Laterne schrie. Ihr Licht flackerte.

      „Bitte, Frau Stern“, jammerte Frau Blume, „können Sie bitte auch aussteigen? Ich schaffe es sonst nicht!“

      „Ich bin die Vierundzwanzig“, flötete Frau Stern. „Ich bin hier die Wichtigste!“

      „Und


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