Ich war eine Ärztin in Auschwitz. Gisella Perl
Gisella Perl
Ich war eine Ärztin in Auschwitz
Aus dem Englischen
von Klaudia Ruschkowski
Herausgegeben von Andrea Rudorff
Inhalt
Einführung in die deutsche Ausgabe
Auschwitz – und ein Tag innerhalb seiner Grenzen
Schatzkammer Auschwitz – Julika Farkas
Der Preis für ein Stück Schnur …
Der verhängnisvolle Stofffetzen
Einführung in die deutsche Ausgabe
Auch wenn inzwischen der Eindruck überwiegt, die Überlebenden der Shoah hätten erst Jahrzehnte nach Kriegsende die Kraft gefunden, über die grausamen Erfahrungen während der Verfolgung und der Lagerhaft zu berichten, so dürfen wir die zahlreichen Jüdinnen und Juden nicht vergessen, die sich unmittelbar nach ihrer Befreiung aus Konzentrationslagern und Verstecken, überall in Europa und in den folgenden Jahren auch an ihren neuen Wohnorten in den USA, Kanada und Australien, an die schwere Aufgabe machten, Zeugnis von den Verbrechen und ihrem persönlichen Erleben abzulegen.
Viele taten dies, weil sie sich den Ermordeten gegenüber verpflichtet fühlten, andere sahen darin eine Möglichkeit, das Geschehene persönlich zu verarbeiten und hofften auf eine innere Befreiung, um abschließen zu können und sich danach mit neuer Kraft dem schwierigen Aufbau eines neuen Lebens nach der Katastrophe zu widmen. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre entstanden Hunderte von Publikationen, die damals durchaus Aufmerksamkeit erhielten, aber im Laufe der Jahrzehnte vergessen wurden und heute oftmals nur noch schwer zu beschaffen sind.1 Etliche von ihnen wurden nie in andere Sprachen übersetzt. Die Bedeutung einiger dieser Darstellungen ist erst Jahrzehnte später klar geworden, viele sind in den letzten Jahren durch Neuveröffentlichungen zugänglich gemacht worden.
Zu diesen frühen Berichten gehört auch das Buch von Dr. Gisella Perl (1907–1988), einer jüdischen Gynäkologin aus Sighet, die im Mai 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und im April 1945 in Bergen-Belsen befreit worden war. Als sie im Jahr 1946 ihre essayhaft angelegten Erinnerungsstücke an die Lagerhaft niederschrieb, tat sie das vor allem aus dem Gefühl der Verantwortung für die Ermordeten. So formulierte sie in ihrem Geleitwort: »Die Toten sprechen hier zu euch. Die Toten, die euch nicht um Rache für sie bitten, sondern nur darum, an sie zu erinnern und darüber zu wachen, dass keine weiteren unschuldigen Opfer deutscher Unmenschlichkeit ihre Reihen füllen …«
Entsprechend dieses Leitsatzes liegt neben der Erzählung ihrer persönlichen Geschichte der Schwerpunkt ihres Berichts darin, hoffnungsvolle, junge, begabte und schöne Frauen zu portraitieren, die in der überwiegenden Mehrzahl nicht überlebt haben. Deutlich wird ihr Anliegen, die Phasen der Depravation dieser Frauen in der Lagerhaft darzustellen, ihren Lebenswillen und Überlebenskampf zu betonen und auf den großen kulturellen Verlust hinzuweisen, der mit der Ermordung dieser Menschen einherging.
Gleichzeitig hatte Gisella Perl durch ihre Arbeit als Häftlingsärztin etwas Besonderes zu erzählen. Häftlinge, die als medizinisches Personal in Konzentrationslagern zum Einsatz kamen, wurden zu außerordentlich wichtigen Zeugen, da sie zentrale Orte für das innere Funktionieren des Lagers – die Krankenreviere – kennengelernt hatten, eine hohe Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch für unzählige Mithäftlinge wahrnahmen und dabei permanent mit ethisch herausfordernden Situationen konfrontiert waren. Alle Überlebenden, die sich schreibend mit der Lagerhaft auseinandersetzten, beschäftigten sich mit den moralischen Zumutungen und Grenzsituationen – der wohl bekannteste unter ihnen ist Primo Levi, der den Begriff der »Grauzone« für die menschlichen Dilemmata in einem unmenschlichen System prägte.2
Auch Gisella Perl spart diese Themen nicht aus. Ihr Buch reiht sich ein in die Memoiren ehemaliger Häftlingsärzte und -ärztinnen, die ihr spezielles Wissen zu den Vorgängen in den Krankenrevieren und Experimentierstationen des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau und die unerträglichen Situationen, die für die Häftlingsärztinnen und -ärzte entstanden, weitergaben. Unermüdlich schrieb der österreichische Lagerarzt Dr. Otto Wolken in den Wochen nach der Befreiung Berichte und Analysen