Ich war eine Ärztin in Auschwitz. Gisella Perl
im Sektionsraum des Krematoriums II, wo er im Auftrag von Josef Mengele Leichen sezieren musste.4 Im Jahr 1948 erschienen in London die Erinnerungen der österreichischen Häftlingsärztin Ella Lingens, 1956 die der jüdischen Berliner Ärztin Lucie Adelsberger, die im sogenannten Zigeunerlager in Birkenau eingesetzt war, 1979 eine Abhandlung der Polin Irena Białówna.5 Andere Berichte sind kurz nach der Befreiung verfasst, aber erst später veröffentlicht worden, wie die Berichte der Häftlingsärztinnen Adélaïde Hautval und Sima Vaisman.6 Die Form von Perls Bericht erinnert stark an das ebenfalls 1947 erschienene Buch der slowakischen Häftlingsärztin Margita Schwalbová, die ihre Erfahrungen im Krankenrevier des Frauenkonzentrationslagers mit Portraits von weiblichen Häftlingen verknüpfte.7
In besonders enger Beziehung zu Gisella Perls Buch stehen die Memoiren von Olga Lengyel, die erstmals 1946 in Paris und anschließend in Chicago erschienen sind und bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurden.8 Die beiden Frauen arbeiteten zusammen auf dem Krankenrevier im Teillager B II c. Es ist gut möglich, dass sie beim Verfassen der Berichte miteinander in Kontakt waren, denn beide hielten sich im Jahr 1946 in Paris auf. Teilweise überschneiden sich die Inhalte ihrer Berichte stark, was angesichts des engen Zusammenlebens und -wirkens der beiden in der Krankenstation des Lagers B II c nicht verwundert. Gisella Perl stellt Olga Lengyel im Buch als Olga Schwartz vor und veränderte einige Fakten – möglicherweise aus literarisch-fiktionalen Gründen. Sie bezeichnet Olga Lengyel als ausgebildete Ärztin, während diese selbst immer sehr großen Wert darauf legte, dass sie lediglich eine medizinische Assistentin war, die jedoch viel Praxiserfahrung im Krankenhaus ihres Mannes Dr. Miklós Lengyel gesammelt hatte, der übrigens nicht, wie bei Perl erwähnt, in Bergen-Belsen überlebte, sondern auf dem Todesmarsch von Auschwitz-Monowitz ums Leben kam.9
Es ist anzunehmen, dass Perl die von ihr portraitierten Personen, darunter Olga Schwartz, weniger im Sinne von historischen Biographien angelegt hat, als vielmehr als Allegorien des Daseins im Lagers versteht, die sie zum Anlass nimmt, sich beispielhaft Themen wie Freundschaft, Lebenswillen, Überlebenskampf, Aufopferung, aber auch Verfall, Depression, Illusionen oder auch die Qualen von Müttern nach der Trennung von ihren Kindern anzunehmen.
Einen »connecting link« zwischen Gisella Perl und Olga Lengyel stellt Lujza Salamon dar, die wie Olga Lengyel aus Cluj stammte und ebenfalls als Häftlingspflegerin im Krankenrevier des Lagers B II c eingesetzt war. Sie floh im Januar 1945 gemeinsam mit Olga Lengyel vom Todesmarsch aus Birkenau, schlug sich dann in ihre Heimat durch und berichtete bereits im März 1945, noch vor Kriegsende, im »Haus der Flüchtlinge« in Bukarest von ihren Erfahrungen.10 In ihrem Bericht erwähnte sie Gisella Perl als »Dr. Krauss, die Leiterin der Frauenheilkunde« in B II c. Krauss ist der Name von Gisella Perls Mann und es ist gut möglich, dass sie in Birkenau auch unter diesem Namen bekannt war. Unterlagen der KZ-Verwaltung zu Gisella Perl konnten bisher nicht aufgefunden werden, was aber angesichts der in der letzten Phase nicht mehr durchgängig erfolgten Registrierungen bzw. der Vernichtung von Häftlingsunterlagen in der Endphase des Krieges nicht ungewöhnlich ist. Als »Dr. Gisi Perl« ist sie auf einer Liste von Juden mit rumänischer Staatsbürgerschaft notiert, die in Bergen-Belsen befreit wurden.11
Weibliche Erfahrungen während Verfolgung und Lagerhaft und die Situation von deportierten Jüdinnen in Auschwitz im Frühsommer 1944
Die spezifischen Erfahrungen jüdischer Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem sind in den 1980er-Jahren vor allem in den USA auf die wissenschaftliche Agenda geholt worden.12 Schwerpunkt der Diskussionen war – neben der Klärung der Legitimität der Kategorie Gender in der Untersuchung der Judenverfolgung und -vernichtung – die Frage nach geschlechtsspezifischen Überlebensbedingungen und -strategien. Joan Ringelheim stellte fest, dass jüdische Frauen in fast allen Etappen der Verfolgung einer höheren Todesgefahr ausgesetzt waren als jüdische Männer: Einmal aufgrund der gesellschaftlichen Rollenverteilungen, die dazu führten, dass zum Beispiel die kostenintensive Emigration ins Ausland eher männlichen Familienmitgliedern ermöglicht wurde, aber auch aufgrund der NS-Vernichtungspolitik, die vorsah, dass jüdische Frauen, wie Himmler in seiner Posener Rede am 6. Oktober 1943 klar benannte, als Keimzelle des jüdischen Volks möglichst ausnahmslos umzubringen seien.13
Seit den 1990er-Jahren entstanden vor allem im deutschen Sprachraum Arbeiten, die sich mit den spezifischen Bedingungen von weiblichen Häftlingen in einzelnen Lagerkomplexen befassten.14 Dabei fiel auf, dass sowohl jüdische als auch nichtjüdische Frauen in den KZ-Außenlagern der letzten Kriegsphase eine deutlich höhere Überlebensrate als Männer aufwiesen.15 Dies konnte einerseits auf ihre zunehmende Bedeutung als Arbeitskräfte in der NS-Kriegswirtschaft zurückgeführt werden – warf aber gleichzeitig die Frage auf, ob Frauen über sozialisationsbedingte Fähigkeiten verfügten, die ihre Überlebenschancen positiv beeinflussten.
Für die Situation der weiblichen Häftlinge in Auschwitz-Birkenau sind die Forschungen von Irena Strzelecka und Helena Kubica wegweisend.16 Angesichts der verschiedenen Phasen der Lagerentwicklung, der disparaten Funktionen der einzelnen Lagerbereiche und der unterschiedlichen Politik gegenüber einzelnen Häftlingsgruppen muss die Situation weiblicher Häftlinge stark differenziert und in Abhängigkeit von Herkunft, Status, Deportationszeitpunkt und Lagerbereich unterschieden werden. Zu einzelnen Lagerbereichen, wie unter anderem zu der Abteilung B II c, in der Gisella Perl untergebracht war, besteht noch großer Forschungsbedarf.
Gisella Perl wurde 1907 in Máramarossziget (heute Sighetu Marmației in Rumänien) geboren, einer Stadt in Siebenbürgen, die zum Zeitpunkt ihrer Geburt zum Königreich Ungarn, nach dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien und nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch 1940 wiederum zu Ungarn gehörte. Nachdem die Deutschen im März 1944 Ungarn besetzt hatten, waren die annektierten Gebiete die ersten, aus denen die jüdische Bevölkerung deportiert wurde. Die Juden von Máramarossziget wurden nach kurzem Aufenthalt in einem ghettoähnlichen Sammellager Ende Mai 1944 nach Auschwitz deportiert. Gisella Perl, die zu diesem Zeitpunkt eine 36-jährige angesehene Gynäkologin und Geburtshelferin war, wurde zusammen mit ihrem Mann, ihrem Sohn, ihren Geschwistern und Eltern nach Auschwitz-Birkenau deportiert. An der Rampe wurde sie von ihnen getrennt. Eltern und Sohn wurden sofort nach Ankunft in der Gaskammer ermordet. Ihr Mann, ihr Bruder und ihre Schwägerin wurden ins Lager aufgenommen, starben aber noch vor der Befreiung. Ihre Tochter Gabriella, die sie in den Memoiren nicht erwähnt, lebte zu diesem Zeitpunkt versteckt bei einer nichtjüdischen Familie.17
Nie waren mehr Menschen in Birkenau eingetroffen als in den Monaten Mai und Juni 1944. Bis Reichsverweser Miklós Horthy im Juli 1944 die Einstellung der Deportationen verfügte, waren rund 438 000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert worden.18 Die eintreffenden Menschen wurden an der Rampe von der Lager-SS unter Aufsicht der Lagerärzte selektiert. Arbeitsfähige Männer und Frauen sollten zum Arbeitseinsatz in die deutsche Rüstungsindustrie gebracht werden, da sich im Laufe des Jahres 1944 der Arbeitskräftemangel dramatisch zugespitzt hatte. In einem ersten Schritt trennte die SS die Deportierten nach Geschlechtern. Kinder wurden der Gruppe der Frauen zugewiesen. In einer weiteren Selektion trennte die SS die beiden Gruppen erneut: Wer alt, krank oder arbeitsunfähig erschien, kam auf eine Seite, wer gesund und kräftig wirkte, auf die andere. Gisella Perl wurde der Gruppe der arbeitsfähigen Frauen zugewiesen. Die Zahl der zur Arbeit selektierten Juden aus den Ungarn-Transporten wird auf 110 000, etwa zum gleichen Anteil Männer und Frauen, geschätzt.
Die zum Arbeitseinsatz ausgewählten Frauen wurden nach der Selektion als sogenannte »Durchgangsjuden« notdürftig in den Abschnitten B II c sowie im noch nicht fertiggestellten Abschnitt B III (genannt »Mexiko«) untergebracht. Gisella Perl wurde dem Lagerbereich B II c zugewiesen. Er diente von Ende Mai bis November 1944 als Quarantäne- und Durchgangslager für bis zu 32 000 weibliche jüdische Deportierte, die zum großen Teil aus Ungarn und den ungarisch besetzten Gebieten stammten und dort Wochen oder Monate verbrachten, bis die SS über ihr weiteres Schicksal entschied. Sie wurden, bis auf Hilfsarbeiten zur Lagerorganisation, nicht zur Arbeit eingesetzt und hatten stattdessen täglich qualvolle, stundenlange Zählappelle zu absolvieren. Die Monate, die Gisella Perl in Birkenau verbrachte, waren eine Zeit, in der sich Birkenau zum größten Umschlagplatz für Häftlingsarbeiterinnen entwickelte, die in das