DAS ORAKEL. Daphne Niko

DAS ORAKEL - Daphne Niko


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      «Kann ich einen Blick darauf werfen?»

      Evan zuckte mit den Schultern. «Wie Sie wollen. Ich werde etwa in einer Stunde im Labor sein. Dann können Sie vorbeikommen.» Er spähte zum Himmel. Dunkle Wolken drängten sich am westlichen Horizont. «Sieht ohnehin nach Regen aus.»

      Sarah nickte. «Ich werde da sein.»

      Er ging weg, blieb dann aber stehen und drehte sich wieder zu ihr um. «Wegen Daniel … er verhält sich merkwürdig, oder?»

      «Was meinen Sie?»

      «Neulich habe ich zufällig mitangehört, wie er am Telefon mit jemandem darüber sprach, in den Mittleren Osten zurückzukehren.» Er zuckte mit den Schultern. «Na ja, Sie wissen wahrscheinlich davon.»

      Sie verspürte ein vertrautes, brennendes Gefühl im Bauch. Ängste, die sie vergraben geglaubt hatte, kämpften sich an die Oberfläche zurück.

      Eine kühle Brise, Vorbote des Sturms, pfiff durch die Olivenbaumblätter. Evan schlug seinen Kragen nach oben, schob seine Hände zurück in die Manteltaschen und verschwand im aufziehenden Nebel.

      Die grünen LED-Ziffern des Weckers zeigten 02:20 Uhr. Sarah rollte sich auf den Rücken und starrte auf den abbröckelnden Putz an der Decke. Wie Najaden durch die Bäche der Antike schwammen, zogen Gedanken durch ihren Geist und hielten sie wach.

      Den Nachmittag hatte sie im Labor damit verbracht, den Messingpfahl und andere im Tresorraum gelagerte Artefakte zu untersuchen. Von Evan hatte sie Informationen über alle Gegenstände gefordert, aber er konnte nur das ursprüngliche Protokoll vorlegen. Sämtliche anderen Unterlagen waren aus dem Archiv gestohlen worden.

      Dem Protokoll nach war der obeliskförmige Pfahl ein Zufallsfund aus dem Quellgebiet des Flusses Herkyna in der Nähe der Stadt Livadia. Er war der Ephorie etwa vor einem Jahr übergeben worden und wurde noch immer untersucht.

      Aber es gab noch einen anderen interessanten Gegenstand. Ein anthropomorphes Rhyton in der Form eines Wolfskopfes. Wie über den Obelisken, so besaßen sie auch über das zeremonielle Trinkgefäß, das nach dem späten fünften oder frühen vierten Jahrhundert vor Christus aussah, nur wenige Informationen. Anscheinend war es während des Baus einer Kirche in Chaironea, einer Siedlung außerhalb von Livadia, ausgegraben worden. Man hatte es zerbrochen vorgefunden, und es war teilweise rekonstruiert worden.

      Eine Verbindung zwischen den beiden Gegenständen schien nicht wahrscheinlich, aber beide unterschieden sich erheblich von allem anderen, was im Museum oder im Lager ausgestellt war. Und sie waren sehr nah beieinander gefunden worden. Dieser Grund war so gut wie jeder andere, um dort mit ihren Nachforschungen zu beginnen.

      Sarah zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken – zumindest für den Moment. Sie brauchte Schlaf. Sie stand aus dem Bett auf und ging durch den dunklen Raum, um sich eine Tasse Kamillentee aufzubrühen. Während der Wasserkessel heiß wurde, starrte sie aus dem Fenster. Das weiche, blaugraue Licht des zunehmenden Halbmonds konturierte das Kronendach des Wäldchens wie mit einem Heiligenschein. Eine starke Brise rüttelte an den Blättern eines Kastanienbaums vor ihrem Fenster. Dann war alles wieder still.

      Der Kessel pfiff. Während sie heißes Wasser über eine Handvoll getrockneter Kamillenblüten goss, bemerkte sie einen Lichtblitz am Rand ihres Blickfelds. Sie stellte sich an die Fensterkante und betrachtete die verdunkelte Landschaft. Wieder sah sie es: Ein winziger Strahl weißen Lichts, der hin und her huschte, als ob jemand nach etwas suchte. Bald darauf verschwand er wieder.

      Wer immer dort war, wollte nicht gesehen werden.

      Sie beobachtete, wie das Licht stoßweise an und aus ging, während es ostwärts über den Hang wanderte. Als sie realisierte, wohin es steuerte, hielt sie den Atem an.

      Sie warf sich den Mantel über und schlüpfte zur Tür hinaus. Barfuß schlich sie durch das Dickicht aus Oliven- und Kastanienbäumen und hielt sich hinter deren uralten Stämmen versteckt.

      Das Labor war hundertachtzig Meter von der Wohnanlage der Mitarbeiter entfernt, ein einsames Gebäude inmitten eines Wäldchens. Es war mit einem Zahlenschloss und einer Alarmanlage gesichert, aber es war unbewacht. Angesichts der Vorkommnisse letzte Nacht hatte Sarah guten Grund zur Annahme, dass dieser kleine Ausflug vor Anbruch der Dämmerung keine Dienstsache war.

      Außer ihrem eigenen an- und abschwellenden Atem hörte Sarah nichts, während sie sich dem Gebäude von Süden her näherte. Das Licht wurde größer und heller, eine profane Erscheinung in der Totenstille der Nacht. Die Eindringlinge waren fast angekommen.

      Ihr Fuß sank in den kalten Schlamm des noch immer feuchten Bodens. Sie wollte schneller gehen, aber die freiliegenden Wurzeln, die sich wie knorrige Finger von den Bäumen erstreckten, forderten ihre gesamte Aufmerksamkeit. Ein Fehltritt könnte sie verlangsamen und, schlimmer, ihre Position verraten.

      Das Licht zeigte auf das Wäldchen. Mit hämmerndem Herzen duckte sich Sarah in einen Hohlraum im Stamm eines riesigen Olivenbaums. Sie war nah genug, um die Stimmen von zwei Männern hören zu können, die griechisch mit dem lokalen böotischen Akzent sprachen. Sie machten sich nicht die Mühe, leise zu sein; entweder waren sie übermäßig selbstsicher oder tollkühn.

      «Hier ist es. Hier wird er aufbewahrt.»

      «Bist du sicher, dass du weißt, wie man rein kommt?»

      «Ja, du Idiot. Ich hab den Code. Mach mal Platz.»

      Ein Schauder lief Sarah über den Rücken. Sie tastete in ihren Manteltaschen nach irgendetwas, mit dem sie eine Ablenkung erzeugen könnte.

      Zettel … Kleingeld … ihr Zimmerschlüssel … ihr Handy. Sie könnte das Telefon benutzen, um die Polizei zu rufen, aber bevor irgendjemand ankäme, wären die Kerle längst verschwunden, möglicherweise mit einem archäologischen Schatz unter dem Arm.

      Sie stand langsam auf und spähte am Baumstamm vorbei. Zehn Meter entfernt waren die beiden Männer über das Tastenfeld gebeugt und tippten die Folge aus sechs Zahlen hinein. Beide trugen dunkle Jacken und Skimützen. Einer war klein und stämmig. Sie konnte weder ihre Gesichter sehen noch weitere Details ausmachen.

      Ich hab den Code. In wenigen Sekunden würden sie in das Gebäude eindringen. Selbst wenn es bedeutete, ihre eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen, konnte sie nicht die Hände in den Schoß legen, wenn das geschah.

      Als sie sicher war, dass sie nicht hersahen, löste sie sich vom Baum und rannte zur Gebäudeseite. Sie presste sich gegen den Verputz und lauschte.

      «Was zum Teufel?» Frustration schärfte die Stimme.

      «Was ist los?»

      «Es funktioniert nicht.»

      «Du machst was falsch. Versuch's noch mal.»

      Sarah konnte das Klicken hören, während die Finger des Eindringlings den Code eingaben. Sie biss sich auf die Unterlippe. Sollte sie es tun?

      Der Mann stieß eine Reihe Schimpfwörter aus und trat dann gegen die Tür.

      «Lass mich mal versuchen. Wie lautet der Code?»

      «Vergiss es, Fettsack. Er hat ihn mir anvertraut, nicht dir.»

      «Tja, ich werd dir aber nicht beim Versagen zusehen. Ich will meine Belohnung. Verstanden?»

      «Halts Maul!» Die Stimme hallte durch den Wald. Als ob er seinen Wutausbruch bereute, reduzierte er sie auf ein Flüstern: «Ich versuch's noch mal.»

      Sarah erkannte ihr Gezanke als eine Gelegenheit. Während sie sich auf Zehenspitzen zur Vorderseite des Gebäudes bewegte und sich innerlich darauf vorbereitete, die Täter zu konfrontierten, schlug ihr Herz so wild gegen die Rippen, wie sich ein wildes Tier gegen die Gitterstäbe seines Gefängnisses warf.

      «Warte», sagte der Anführer. «Ich glaub, ich hab's.»

      Sie spürte den Arm eines Mannes um ihren Brustkorb und eine Hand auf ihrem Mund, bevor sie die Chance hatte, auch nur zu keuchen. Eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr: «Nicht bewegen.»


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