Mami Staffel 12 – Familienroman. Sina Holl
Eltern. Es hatte zu den Korffs kaum einen engeren Kontakt gegeben, schon aus räumlichen Gründen. Bei der Hochzeit seines Bruders war er dabeigewesen, später bei der Beisetzung des großen und ach so kleinen Sarges.
Sie gingen bald hinauf in ihre Wohnung. Dort umfaßte Andreas seine Schwägerin leicht, strich ihr mit dem Handrücken über die Wange.
»Ein bißchen heller schaust du schon in die Welt als vor einem dreiviertel Jahr«, meinte er, ihr in die Augen sehend. »Da hatten wir uns kurz bei deiner Tante getroffen.«
»Ja, auch nur zwischen zwei Flügen. Wann wirst du wohl einmal seßhaft werden, Andreas, du ewiger Single? Immer nur hier und da eine Freundin, ist das ein Leben?«
»Mein Beruf bringt das mit sich, Ariane. Wie kann ich einer Frau zumuten, dieses unstete Leben mit mir zu teilen?«
Sie setzen sich.
»Wie geht es deinen Eltern?« erkundigte sich Ariane. »Siehst du sie manchmal? Wir haben kaum noch Kontakt zueinander. Jeder lebt für sich.«
»Ich fahre zu ihnen, so oft es eben geht. Sie haben sich von allem zurückgezogen. Daß sie Michael so früh verlieren mußten, darüber werden sie wohl nie hinwegkommen.«
»Das kann man auch nicht«, sagte Ariane still. »Das können weder die Eltern noch ich, seine Frau.«
Andreas sah sie an. »Aber du, du bist jung, Ariane«, drängte es sich ihm über die Lippen. »Du kannst nicht Jahr um Jahr in dieser für dich viel zu großen Wohnung allein sitzen und nur trauern.«
»Es wird bald ein Mann hier mit mir wohnen, und ein Kind«, sagte Ariane mit unbewegtem Gesicht. »Ja, es ist wahr, Andreas. Du brauchst mich nicht anzusehen, als redete ich in einer fremden Sprache. Die Geschichte ist ganz einfach. Du hast vorhin bemerkt, daß mein Vater nicht gut aussieht. Seine Gesundheit ist angegriffen. Er hatte entsetzliche Sorgen mit der Bank. Die nehme ich ihm mit der Heirat mit einem Mann, der mit seinem Kapital die Bank stützen wird.«
»Du siehst mich fassungslos«, murmelte Andreas.
»Das sind alle, wenn sie davon erfahren. Warum eigentlich? Ich finde das gar nicht so ungeheuerlich. Ich nehme mich selbst nicht mehr so wichtig, weißt du.«
Andreas erhob sich, es hielt ihn nicht länger auf seinem Platz. Er tat ein paar Schritte ins Zimmer hinein und versuchte das Gehörte zu begreifen. Es gelang ihm nicht.
Was war aus ihr geworden, die er als glückliche junge Frau an der Seite seines Bruders gekannt hatte, als strahlende Mutter ihres Kindes.
Konnte ein Mensch sich denn so ganz aufgeben?
Ariane sah zu ihm hin. Es gab keine Ähnlichkeit zwischen ihm und ihrem verstorbenen Mann, weder im Äußeren noch im Wesen. So ungleich konnten Brüder sein. Sie hatte ihn dennoch immer gemocht, den Ungestümen, der heute hier und morgen dort war in fernen Ländern und es gar nicht anders wollte.
»Komm, setz dich wieder. Es sollte dich doch nicht umwerfen«, sagte sie sanft und deutete auf seinen Platz.
Aber er schüttelte nur den Kopf, ließ seinen Blick im Zimmer umhergehen. Plötzlich fiel ihm etwas auf.
»Du hast gar keine Fotos stehen«, stellte er unvermittelt fest.
»Nein. Ich brauche das nicht. Ich habe meine beiden immer vor Augen.«
Andreas hielt inne, sein Blick kehrte zu ihr zurück, richtete sich fest auf sie. »Ich möchte dir etwas sagen, Ariane.«
»Aber bitte nicht«, sie hob in leiser Abwehr die Hände, »daß man nur aus Liebe heiraten sollte, daß es für mich noch ein neues Glück geben könnte, und so weiter. Es wäre sicher gutgemeint, aber in den Wind gesprochen, Andreas.«
»Du verschließt dir selber die Tür zum Leben«, warf er ein.
»Die ist schon lange geschlossen«, sagte Ariane unbewegt.
Doch Andreas sprach weiter: »Ich persönlich wollte dir nichts dergleichen vorhalten, Ariane. Ich hätte dir eher vorgeschlagen, dein früher mal begonnenes Studium wieder aufzunehmen. Daraus ließe sich etwas machen, und du hättest ein Ziel. Aber davon kann nun keine Rede mehr sein. Nein, ich wollte dir etwas anderes sagen.«
Er setzte sich wieder hin, seine Miene war sehr ernst.
»Du weißt, daß ich mit meinem Bruder sehr verbunden war, bei aller Verschiedenheit unseres Naturells. Wir verstanden uns, machmal hatten wir vertraute Gespräche miteinander, nur wir zwei. So sagte Michael einmal zu mir: Andreas, wenn mir mal etwas passieren würde und ich Ariane mit dem Kind zurücklassen müßte…«
»Wann hätte er so etwas gesagt?« fuhr Ariane mit weiß gewordenem Gesicht auf. Ihre Brust hob und senkte sich in raschen Atemzügen.
»Das war an unserem letzten Weihnachten, wo wir noch alle zusammen waren. Ein paar Wochen vor diesem verhängnisvollen Urlaub. Es mochte eine Art Vorahnung gewesen sein, obwohl ich an solche Dinge kaum glaube. Aber wie wäre er sonst darauf gekommen?«
»Er hatte keine düsteren Vorahnungen, Michael doch nicht«, stammelte Ariane. »Wir haben die Reise froh und unbeschwert angetreten, Andreas!«
»Wie dem auch sei… Ich wollte seine Worte mit einer oberflächlichen Bemerkung abtun, so in der Art, na, wer wird denn an so was denken, Bruderherz. Aber das konnte ich nicht. Da war etwas in seinen Augen, das mich zum Schweigen brachte.«
Der Blick des Mannes in Fliegeruniform ging über Ariane hinweg. Er sah die Szene wieder vor sich: Der strahlende Lichterbaum bei den Eltern, das spielende Kind darunter, alle in Feiertagsstimmung, und der Bruder, der ihn irgendwann beiseite genommen hatte.
»Dann soll Ariane nicht allein bleiben, sagte er«, fuhr Andreas mit dunkler Stimme fort. »Es würde sie niederschlagen, das weiß ich. Aber sie muß sich wieder aufrichten. Die Seelen der Dahingegangenen können keine Ruhe finden, wenn die Lebenden sich an sie klammern.«
Sein Blick kehrte zu der Schwägerin zurück.
»So hat er gesprochen, Ariane. Ich schwöre es dir, daß ich Wort für Wort noch im Ohr habe.«
Ariane hatte ihre Hände zusammengekrampft, wie zu einem Gebet.
»Von dieser Seite habe ich Michael nicht gekannt«, brachte sie mühsam über die Lippen. »Daß er solche Gedanken haben konnte… Wir waren doch eine junge, fröhliche Familie…« Sie starrte vor sich hin.
Andreas hob ein wenig die Hände und ließ sie wieder sinken.
»Er war Arzt, Ariane«, gab er zu bedenken. »Michael ist in seinem Beruf mit dem Tod konfrontiert worden. Das mag ihn tiefer berührt haben, als er sich anmerken ließ.«
Nach einem kurzen Schweigen sagte Ariane: »Und ich habe an jenes Weihnachten nur an ein Fest zurückgedacht. Was ging da nur in Michael vor?«
»Es war ja nur ein Moment des Ernstes«, versicherte Andreas. »Nur wie ein Schatten, der ihn gestreift hatte, mitten im Glück.«
Diesmal war das Schweigen länger. Endlich blickte Ariane wieder auf.
»Warum erzählst du mir das erst jetzt, Andreas?« fragte sie.
»Vorher schien es mir noch zu früh«, antwortete ihr Schwager. »Du brauchtest deine Zeit zum Trauern. Aber daß ich dich jetzt immer noch so vorfinde – so wie von Glaswänden eingeschlossen, fern und gleichgültig allem gegenüber, was mit dir geschieht, das läßt mich erschrecken. Ich mußte es dir einmal sagen, Ariane, daß Michael das nicht wollte.«
Er neigte sich zu ihr, seine Stimme wurde immer eindringlicher.
»Richte dich endlich wieder empor, Ariane, wie er es gewollt hätte. Die Kraft mußt du finden!«
Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und nickte. »Es wird ja nun auch manches anders werden«, sprach sie dann leise.
Mit gerunzelter Stirn fragte Andreas: »Was ist das für ein Mann, den du heiraten willst, nur weil
er Geld hat?« Es