DIE TURING-ABWEICHUNG. William Hertling
31
Vorgeschichte
Es ist das Jahr 2043.
Seit dreißig Jahren koexistieren Menschen und künstliche Intelligenzen, auch KIs genannt, durch eine sorgfältig aufrechterhaltene Balance der Macht.
Einige KIs verbringen ihre gesamte Existenz innerhalb von Computern, besuchen nie die reale Welt, während andere sich in Roboterkörpern manifestieren. Aber alle müssen sich einem rigiden Reputationssystem unterwerfen, das sicherstellt, dass nur die KIs, die vertrauenswürdig sind und Beiträge zum Wohl der Menschheit und der KI-Zivilisation leisten, an Rechenleistung gewinnen.
Die Menschheit ist im Wandel. Die meisten haben ein Neuralimplantat, das sie mit dem globalen Netz verbindet; aber eine wachsende Zahl hat ihren Intellekt mit Computerchips aufgerüstet, was sie halb zu Menschen und halb zu KIs macht. Viele verbringen ihr Leben innerhalb einer virtuellen Realität und besuchen nur noch selten die reale Welt.
Aber jetzt wird sich alles verändern.
Prolog
Juni 2043 in Portland, Oregon
Cat kam aus der Dusche, nur Sekunden, bevor das Neuralimplantat ihr signalisierte, dass ein dringender Anruf von Mike Williams hereinkam. Sie ging auf reinen Sprachmodus.
»Was ist los, Mike?« Mike, ihr langjähriger Freund, war der Leiter des Instituts für Angewandte Ethik, der Kontrollbehörde für KIs.
»Wir haben eine Situation in Miami, die sich zu einem Problem entwickeln könnte. Unsere zuständige KI hat den Stromverbrauch hochgerechnet und vermutet, dass es sich um nicht lizenzierte Rechner handelt. Könnte ein falscher Alarm sein, aber ich hatte die Hoffnung, dass ihr es euch mal ansehen könntet, du und Leon.«
Cat dachte kurz an den Babystuhl, der so dick mit getrockneter Babynahrung verkrustet war, dass es sogar die Reinigungsbots überforderte, und an die Berge gebrauchter Windeln, die gewaschen werden mussten. Sie warf einen Blick in Richtung Schlafzimmer, wo ihr Ehemann Leon Tsarev immer noch schlief. »Ich bin dabei. Leon kann auf die Kleine aufpassen.«
»Super. Ich habe eine Überschalldrohne, die schon am Flughafen auf dich wartet.«
Cat trennte die Verbindung und dachte kurz darüber nach, ob sie Leon wecken und ihm von dem Auftrag erzählen sollte, aber dann redete sie sich ein, dass er seinen Schlaf brauchte. Sie nahm eine Nachricht für ihn auf und setzte sie auf ›Autoplay‹, sodass sie abgespielt werden würde, sobald er aufwachte.
Sie zog sich eilig an, wählte ihre nanogefertigte kugelsichere Stretchhose. Das Material sah wie Leder aus und trug sich wie Spandex. So etwas bekam man nicht von der Stange. Wer aber die intelligentesten KIs der Welt zu seinen Freunden zählte, für den war der 3D-Druck einer Designerhose nur eine kleine Gefälligkeit. Über ihrem Shirt trug sie das Doppelschulterhalfter und wählte dafür aus der Waffenbox ihre beiden Lieblingswaffen aus – die SIG Sauer P12 mit panzerbrechender Keramikmunition und die neue Remington Smart9 mit Lenkflugkörpermunition.
Sie trat vor die Haustür und wich einer frühmorgendlichen Minidrohne aus, die den Vorgarten pflegte. Mehrere hundert Sensoren und Kameras an den Häusern und Fahrzeugen in der Nachbarschaft, die städtische Sicherheit und das öffentliche WatchNet überwachten alles und hielten Ausschau nach Ungewöhnlichem. Cat schaltete sie alle mit einem einzigen Gedanken ab, unterlief die Systeme auf Netzwerkebene mit der Leichtigkeit, mit der man eine Mücke verscheuchte.
Aus Gewohnheit warf sie einen Blick ins Netz. Sie spürte die allgegenwärtigen Hintergrundgeräusche der automatisierten Bots und der Smart-Ausstattungen der Gebäude, fast zehntausend Geräte in einem Radius von nur einem Block. Das Sim-Haus zwei Straßen weiter, voll von VR-Süchtigen in ihren Soletanks, zog genug Strom für dreißig Haushalte, mehr als seine eigenen Solarpaneele erzeugen konnten, und zapfte deshalb Strom aus dem Nachbarschaftsnetz. Die Netzwerklast, die es erzeugte, war enorm, groß genug, um bei ihr als dicke rote Linien angezeigt zu werden, die von dem Haus zu den Mesh-Knoten liefen.
Keine unmittelbaren Bedrohungen. Sie stieg in ihren Wagen, der sie selbstständig zum Flughafen bringen würde. Sie und Leon hatten ihr Flugauto gegen das etwas sicherere Bodenfahrzeug eingetauscht, nachdem ihr Baby geboren worden war. Sie hatte die Selbstfahr-Algorithmen des Fahrzeugs überschrieben, sodass sie die Geschwindigkeitslimits überschreiten konnte.
Am Flughafen fuhr sie zum Gate der Nationalgarde, meldete sich dort mit der ID, die sie normalerweise für ihre Tätigkeit am Institut benutzte. Man musste sie dort schon erwartet haben, weil das Tor sich öffnete, kaum dass sie herangefahren war. Die Soldaten und Bots gingen ins ›Stillgestanden‹.
Da sie weder bei der Regierung noch beim Institut einen offiziellen Status hatte, konnten sie eigentlich nicht wissen, wer sie war. Aber Mike hatte Einfluss bis in die höchsten Kreise, da das Institut für Angewandte Ethik alle KIs überwachte. Sicher, diese KIs waren auch Bürger der Nationalstaaten, aber das Institut legte die Regeln und Gesetze fest, nach denen die KIs sich richten mussten. Und da die KIs mittlerweile achtzig Prozent der Weltwirtschaftsleistung ausmachten, war das Institut einflussreicher als die meisten Länder der Erde.
Sie hielt direkt neben der überschallschnellen Transportdrohne, die auf dem Asphalt am Ende des Rollfelds stand. Der aufragende graue Rumpf sah seltsam aus; seine aerodynamischen Linien schienen schlaff und formlos auf dem Boden zu liegen, als wären an beiden Seiten formlose Säcke befestigt. Welche KI auch immer für die Steuerung verantwortlich war - sie schien kein Gefühl für ihr äußeres Erscheinungsbild zu haben. Das war seltsam, da die meisten KIs sehr auf ihr Image achteten.
Sie schickte ihren Wagen nach Hause und stieg hastig die Stufenleiter zur Drohne hinauf.
»Mon Chaton!«
Cat sah überrascht auf. »Helena! Mike hat dich gar nicht erwähnt …«
Ihre Stimme verebbte. Helena war ein Durga Mark III, ein gepanzerter Kampfbot mit acht Armen. Aber heute hatte Helena den Gurt angelegt und hielt sich mit mehreren Tentakeln an