Der Kinderkreuzzug. Konrad Falke
gebreitete Decke gelegt; er schaut aus dem bleichen Antlitz, dessen Züge Hunger und Seelennot geschärft haben und bis in den Schlummer hinein gespannt erhalten, fast wie ein Toter zum Himmel auf.
Ist es nicht, als pflöge er in gläubigem Herzen Zwiesprache mit dem irdischen Schicksal, um es in einem höheren Namen zu bezwingen, wo es ihn doch bereits gehorsam durch diese Welt hinträgt? Tritt ihm jetzt nicht, wie Verkündigung und Beweis eines andern Lebens, ein zartes Rot auf Stirn und Wangen, ihn himmlisch, göttlich verklärend? Und verbreitet es sich nicht auch über seine beiden Gefährten, welche, wie Lieblingsjünger zu seinen Füßen hingeschmiegt, längst mit unbeschwerter Seele ihre Müdigkeit ausschlafen?
Über den fernen, dunklen Wäldern, die den Horizont säumen, ist die Sonne aufgegangen und überflutet die Erde mit einem purpurnen Lichtmeer, in welchem Wiesen und Äcker, Straße, Ochsen, Wagen für einen Augenblick ertrinken und vom Golde der Schönheit getauft werden, ehe die Lebenshärte eines neuen Tages über sie hinweggeht . . .
8. Erste Anwerbung
»Wer da?«
Die Brückenwache tritt vor und fällt die Spieße.
»Fromme Pilger nach dem heiligen Lande!« raunt Christian mit gedämpfter Stimme vor den wilden Gesichtern. »Der König aller gläubigen Kinder begehrt Einlaß!«
Die Spieße weichen auseinander. Die Ochsen ziehen den Wagen durch das Stadttor. Wer wollte dem Glauben den Einzug verwehren? Und schon rollen sie in den kühlen Schatten der eng aneinandergebauten Häuser hinein und hallt das Geräusch der Räder vor ihnen her.
Von den Fenstern schauen verwunderte Augen herab; aus den Türen kommen neugierige Beine hervor. Um die beiden Knaben, die mit ihrem Kreuz auf der Brust vorn am Holzgeländer stehen, heben sich erstaunte Arme hoch. Überall in der Gasse tauchen Köpfe auf – Wohin wollen die? Nach Jerusalem?
»Führt ihr einen Toten mit, daß ihn der Herr auferwecke?« spotten einige der Nebenhergehenden, die sich an den Sparren festhalten.
»Still! Still! Er schläft immer noch!« antwortet Markus von dem ratternden Wagen herab. »Er hat selber einen Toten auferweckt!«
»Mich hat er auferweckt, der ich schon die glühenden Zangen der Teufel fühlte und die Ungeheuer des höllischen Pechpfuhles auf mich zukommen sah!« bricht der Bauer vor allen in ein lautes Bekenntnis aus; und auf seiner braunen, zerarbeiteten Stirn, um seinen tief im Bart versteckten Mund kämpfen immer noch Schreck und fromme Scheu miteinander. »Dieser Knabe, den Christus uns sendet, hat im Namen Gottes ein Wunder an mir getan!«
Da horchen alle auf und schauen bald auf den Bauer, bald auf den schlafenden Stephan. Und es kommen immer mehr Männer und Frauen zusammen und geben dem seltsamen Fuhrwerk das Geleite – und einer ruft es dem andern zu; und von Mund zu Mund verbreitet sich vorauseilend die Kunde in der Stadt: »Kinder sind gekommen, die nach dem heiligen Lande pilgern! So hat uns der Mönch doch recht berichtet!« Und bis sie den Marktplatz erreicht haben, drängt sich das von seiner Arbeit weggeeilte Volk bereits so dicht, daß der Wagen nicht mehr weiter kann: jeder will über die Schultern seines Vordermannes hinweg den wundertätigen Schläfer erschauen.
»Seht, er bewegt die Lippen! – Seht, jetzt erwacht er! – Er richtet sich auf!«
Mit dunklen Augen schaut Stephan um sich, aus jenseitsfernen Träumen zum irdischen Leben zurückkehrend. Und während er sich vollends erhebt und den Blick fragend über die vielköpfige Menge hingleiten läßt, stützen ihn Lukas und Markus und flüstern ihm zu: »Es ist wahr geworden, was du uns verheißen hast! Wir fahren nach dem heiligen Lande!« Da schaut er schweigend zum Himmel auf und faltet die Hände zu einem stummen, brünstigen Gebet.
Und während er seinem Gotte dankt und alle, die mit ihrer Sehnsucht an ihm hangen, in sein Gebet mit einschließt, erzählt in der Menge der Bauer Christian mit dumpfen Schreckensgebärden immer aufs neue, was ihm widerfuhr und wie er gerettet wurde. Und immer mehr Blicke heben sich von ihm zu dem betenden Hirtenknaben empor und fragen sich, mit jedem Herzschlag weniger zweifelnd und glühender hoffend, ob nicht damit die Wendung und das Ende aller Dinge anhebe, daß ein armer Hirtenbub unternimmt, was die Großen und Mächtigen dieser Erde haben liegen lassen. Nicht nur in jedem Einzelnen, sondern auch in der gesamten, beständig wachsenden Menge schlägt stärker und stärker der Puls eines tatenfrohen Willens und bereitet sich ein Ausbruch vor, dem ähnlich, wenn Feuer flammend in ein reifes Ährenfeld fällt.
»Dank sei dir, frommer Jüngling! Aber hast du diesen Mann hier aus den Krallen des Bösen errettet, so rette auch uns und die ganze sündige Welt! Sei du unser Führer, du, der vom Herrn erwählte König von Jerusalem!«
Eine helle Mädchenstimme ruft irgendwoher diese Worte. Und auch die beiden Knaben auf dem Wagen erheben flehend die Hände: es ist, als ob sie ihre und aller Bitten seinem stillen Gebete einverleiben wollten; als ob erst jetzt ihr großer Entschluß wirksam werden sollte, weil sie ihn vor aller Welt verkünden. Und siehe! wie ein Echo bricht aus dem Volke hervor, was sie selber empfinden: bald hier, bald dort wirft sich ein Mann, eine Frau verzweifelt aufschreiend in die Knie; und ein frommer Schauder verbreitet sich wie ein Hauch göttlichen Geistes über die zerknirscht gebeugten Rücken hinweg und erfaßt mit einem Schlage auch die Hintersten, eben Herbeigeeilten.
»So helft ihr mir, wenn ich euch helfen soll!« ruft da Stephan in die aufgewühlten Menschen hinein, deren überquellendes Leid ihn mit hundert Armen aus der Zwiesprache mit Gott auf die Erde herabgezerrt hat. »Helft mir, daß das Grab Christi nicht mehr länger in der Gewalt der Heiden bleibe, sondern unser sei und unser auch der Geist des Herrn! Euch frage ich an, ihr Knaben und Mädchen: Wie sollte uns der Herr erlösen, wenn wir ihn nicht erlösen? Kommt mit: Zieht mit uns in das heilige Land! Nehmt wie ich das Kreuz! Mit diesen Armen möchte ich euch alle umfassen und euch dem entgegenführen, der euch mit noch größerer Liebe, als ich es tun kann, umfangen wird! – Auf, nach Jerusalem!«
Seine Stimme hat sich wie ein Schrei selbstvergessener Hingabe emporgeschwungen und ist gleich einem Adler auf die Herzen der Jugend herabgestoßen: sie springen auf, von einem übermächtigen Geist und Vorsatz ergriffen. Die Männer und Frauen stehen da und sehen erschüttert, wie in Stephans bleichem Gesicht die dunklen Augen vom Leid der Welt glühen, das auch sie wohl immer in einem letzten Winkel ihrer Seele mitfühlten, erst jetzt aber wie einen herzzerwühlenden Schmerz empfinden; und fast will sie ein Neid befallen angesichts der Begeisterung all der Knaben und Mädchen, welche Stephan, diesem Befreier ihres heiligsten Wollens, unaufhörlich seine letzten Worte nachsprechen, nein, sie ihm als eine feierliche Bestätigung entgegenjubeln – »Auf, nach Jerusalem!« tönt es mit himmlisch fortreißender Gewalt durch das Häuser- und Gassengewirr des Städtchens und weht den Ruf in die dumpfeste Stube hinein, wie einen Lufthauch von dem großen Strom glaubensstarken Geschehens, welcher soviel leichtbewegliche Gemüter in seinen Bann gezogen hat.
Also die Kinder! Also die Unmündigen werden das große Werk aufnehmen, über welchem die Alten und Erfahrenen schon so oft matt und mutlos die Arme niedersinken ließen. Steht es nicht schon in der heiligen Schrift geschrieben? »Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich!«? Nun ist die Zeit erfüllt und der Tag erschienen! Haltet sie nicht zurück, ihr Väter und Mütter, die ihr sie einst auf diesen Glauben tauftet, nun sich die Kraft des Glaubens an ihnen zu erwahren beginnt! Gebt ihnen aus vollem Herzen euren Segen; und mit vollen Händen, was des Leibes Notdurft ist! Stellt sie und ihre hohe Sache Gott anheim! Seid nicht minder stark im Opfern als diese Jugend, die sich selber opfern will!
Von allen Seiten werden Vorräte zu Stephans Wagen hergeschafft. Der Bauer Christian erzählt immer neuen Gruppen, wie ihn das Gebet Stephans aus den Martern der Hölle ins Leben zurückriß; und Stephan sieht mit kindlich staunender Freude, wie ihm das Volk Brot,