Der Kinderkreuzzug. Konrad Falke
Und nachdem sie jetzt den dem Marmorleib allenthalben anliegenden Schutt entfernt haben, setzen sie behutsam die Spitzhauen an, um die Göttin selber aus ihrem Grabe herauszuzerren. Doch das schlummernde Steinbild wehrt sich mit stummer Hartnäckigkeit dagegen, ob ihnen auch vom Ziehen und Reißen die Augen aus den Höhlen treten und der Atem keuchend der Brust entfährt. So rufen sie denn nach Brettern und Seilen, um mit Kunst und Witz ihren allzuschwachen Kräften nachzuhelfen.
»Das ist, sagt ihr, eine alte Heidengöttin?« meint bedächtig der Bauer, der staunend ihren Anstrengungen gefolgt ist. »Mir scheint sie noch ziemlich jung zu sein –« Und er vergleicht im Geiste diese glatten, straffen Formen mit dem, was er bisher vom Weibe kennen gelernt hat.
»Aber schwer ist sie wie eine Vettel, die selbst dem Teufel zu fett ist!« schnauft einer der Schüler. Und alle brechen in Gelächter aus, so daß ihnen die Fähigkeit, etwas auszurichten, vollends verloren geht.
Da kommen die Buben mit den Hanfseilen angestolpert, ziehen sie der Venus unter den Armen durch und werfen sie über die Gabel eines starken Baumstammes. Sie bringen Bretter, die sie ihr unter den Leib schieben, soweit es möglich ist, um ihn dann, indem sie sich selber auf das andere Ende stellen, zu heben. Und so ziehen, drücken, stoßen sie zuletzt alle miteinander, bis die steinerne Göttin sich langsam zu regen und zu heben anfängt und schließlich mit einem Ruck sich gleichgültig auf den trockenen Grund hinauflegt.
Unter der Türe ist über dem Eifern und Lärmen auch die Bäuerin erschienen und beschaut erstaunt die ihr zu Füßen gelegte Steinleiche. »Was ist das? Meint ihr nicht, daß dieses Heidenwerk uns Unheil bringen könnte?« Aber niemand hört auf ihre warnenden Reden; denn alle zerren aufs neue an dem Seil, stützen oder stoßen die sich langsam hebende Statue, und sind nur noch von dem einzigen Trachten erfüllt, sie auf die Füße zu stellen . . .
Endlich ein Haus! denkt Isa, die mit ihrem Bündelchen allein auf der Landstraße dahergewandert kommt. Und Menschen wohnen dort auch, so zerfallen es aussieht; sonst hörte man nicht aus dem Garten so laut reden, rufen, lachen. Warum soll sie nicht hineingehen und um Gotteswillen ein Almosen erbitten, wie sie es schon so oft getan hat? Dem stets erneuten Morgenschwur, unter kein Dach mehr zu treten, wo sie das Heimweh packen könnte, lassen Hunger und Furcht sie immer wieder untreu werden.
Aber kaum hat sie einen Blick unter die Bäume geworfen, in deren Kronen das Gold der Abendsonne schwimmt, und ist ein paar vorsichtig-neugierige Schritte weit in die Büsche hineingetreten, so sieht sie mit Erstaunen vor sich einen Knäuel Menschen, aus welchem ein Seil hochsteigt, zusammengedrängt stöhnen und ächzen, bis plötzlich alle mit lautem Freudengeschrei auseinanderfahren. In ihrer Mitte steht, vom warmen Himmelslicht umduftet, ein über und über von brauner Erde und grünem Schlamm bedecktes steinernes Mädchen, das nicht nur mit der lieblich-hoheitsvollen Gebärde der beiden vorgehaltenen Arme seinen schlanken Leib beschützt, sondern ebensosehr in lautloser Klage der getrübten Augen um Hilfe zu rufen scheint. Isas Lippen entfährt ein unwillkürlicher Ruf des Mitleids, so daß alle fast erschrocken sich nach ihr umschauen und gleichzeitig ihr rotes, leuchtendes Haar und das schlichte weiße Kreuz auf ihrer Brust gewahren –
»Ja, komm nur her, Kreuzfahrermaid!« ruft einer der Schüler voll Übermut. »Das ist eine ältere Schwester von dir, die wir soeben zur Auferstehung gebracht haben.«
Aber während der Bauer, die Bäuerin, die Buben und die Vaganten darüber in ein erneutes wieherndes Gelächter ausbrechen, obschon sie von der Anstrengung her, mit welcher sie das Steinbild aufrichteten, noch keuchen und schnaufen, wirft Isa rasch entschlossen ihr Bündelchen hin und nähert sich nicht anders der alten Marmorstatue, als wäre sie wirklich ihre zu Unrecht totgeglaubte und nun durch ein plötzliches Wunder ins Dasein zurückgekehrte Schwester. Sie löst ihr das Seil, das ihr wie einer Sklavin noch die Brust umschnürt hält; dann entdeckt sie mit einem raschen, suchenden Rundblick den klaren Wasserstrahl der von der Mauer herabrinnenden Quelle und holt ein Stück von dem nassen, weichen, grünen Moos, aus dem er hervorquillt: und wenn man sonst Leichen abwäscht, bevor man sie für immer in die Erde legt, so erweist sie jetzt umgekehrt der von der Erde zurückgegebenen Göttin diese Wohltat, indem sie ihr mit solchem sanften Schwamm sorgfältig und ehrfürchtig alle Grabesschlacken zu entfernen beginnt. Die Schüler aber, kaum daß sie das Vorhaben Isas begriffen haben, bemühen sich, ihr immer neue, frische Moosstücke darzureichen, so daß sie bald einmal ihre Arbeit ohne Unterbruch fortsetzen kann; und immer mehr teilen sich die bewundernden Blicke der Umstehenden zwischen der aufgefundenen Aphrodite und diesem fremden Mädchen, das ihnen mit jeder seiner dienenden Bewegungen würdiger erscheint, ihre jüngere Schwester zu heißen.
Bei dem leicht vorgebeugten Haupt der Statue hat Isa begonnen. Schon liegen die zartgewellten Haare, welche Spuren dunkler Bemalung aufweisen, sowie der untere Teil der kleinen Ohrmuscheln, den sie gerade noch sichtbar werden lassen, frei zutage; ebenso die beiden Bänder, welche die Haare schlicht der Form des Kopfes anpressen und an einigen Stellen ein goldenes Leuchten bewahrt haben. Aber erst wie sie die leicht gefärbten Augen entschleiert und auch die gerade Nase, die lieblich halbgeöffneten Lippen und das volle Kinn von jeder Trübung gesäubert hat und jetzt von den klarflächigen gütigen Wangen, dem schlanken Hals entlang, mit immer wieder erneuten Moosstücken zur holden Kehle und, über die ergebenen Schultern hinweg, in die Herrlichkeit der beiden jungknospenden Brüste hinuntergleitet, entfaltet sich vor den erstaunten Blicken aller die volle, lichte Pracht des weißen Marmors, welchem ein eigentümlicher rötlichgelber Anhauch – oder ist es nur der Widerschein der untergehenden Sonne? – eine fast beängstigende Täuschung blutdurchpulsten Lebens verleiht; und je tiefer sie den sanft gebogenen Rücken, den keusch zurückgehaltenen Schoß, die kräftigen Hüften und Schenkel in dem klaren Wasser badet – wobei sie die frische, von einer der Spitzhacken herrührende Schramme an der Innenseite des rechten Oberschenkels behutsam wie eine Wunde reinigt –, um so mehr ist es, als fielen die dunklen Erdspuren vollends wie eine tausendjährige Verkleidung von dem gesunden Leibe ab und als zeigte sich die göttliche Aphrodite noch ein letztes Mal in jenem Glanze, mit welchem sie im Anfang der Dinge dem kühlrauschenden Meeresschoße entstieg . . .
»Das ist lustig! Das müssen wir feiern!« ruft gutgelaunt der Bauer, der mit einem großen Krug Wein aus dem Keller zurückkommt. »Herbei ihr alle und setzt euch im Kreise zu einem fröhlichen Trunk!«
Und sie lassen sich nach vollbrachter Arbeit auf die zerfallenen Stufen der kleinen Freitreppe nieder, die zu der Haustüre emporführt, und fangen an, sich der stummen Marmorfrau in ihrer Weise zu freuen. »Wem kann man sie wohl verkaufen?« fragt einer der Buben; worauf ihm einer der Schüler zurückgibt: »Fahr mit ihr zu Markte und du wirst es sehen!« Und unter seinen Kameraden macht zusammen mit dem Krug ein leises Kichern die Runde, das den Bauernburschen gar nicht gefallen will.
Nur Isa hat die gutgemeinte Aufforderung nicht gehört und ihr nicht Folge geleistet. Sie steht wie gebannt vor der Göttin, an welcher der Sonnenzauber langsam zu verblassen beginnt; und derweilen hinter ihr bereits lechzende Kehlen befeuchtet werden, entdeckt sie auf einmal auf dem umdämmerten Marmorantlitz, welches nach der untergehenden Sonne auszuschauen scheint, einen Zug schmerzlicher Ergebenheit, der sie im tiefsten Herzen ergreift. Und sie kann nicht anders: sie muß sich ihr nähern und ihr über den vorgehaltenen kalten Steinarm hinweg ihre beiden lebenswarmen Mädchenarme um den demütigen Nacken legen . . .
»Nicht küssen!« schreit die Bäuerin, welcher bei dieser ganzen heidnischen Auferstehung je länger je weniger geheuer ist. Und sie eilt sogar die Treppe hinunter, um das fremde Mädchen von dem toten Steinbild wegzureißen.
Aber schon sehen alle, wie Isa ihre Lippen mit den Lippen der Göttin vereinigt; und jetzt hören sie auch das leise Schluchzen, das den lebenden der beiden Körper durchschüttert. Isa hat den Kopf in bitterem Weh auf Aphrodites Schulter gelegt; und über den Marmorleib, den erst ihre mitleidigen Hände wuschen, rinnen immer aufs neue ihre heißen Tränen herab. Es ist, als klagte sie ihr jenes Leid, das die Göttin der Liebe besser und tiefer als jede andere Göttin