Wenn die Liebe Trauer trägt. Britta Laubvogel
dem Erdhügel des frischen Grabes liegen noch die vielen Kränze. Die Schnittblumen, von ihrer Wurzel abgetrennt, längst dem Tod übergeben, sind nun erfroren. Ich kämpfe mit mir, spüre keinen Mut zum Leben. Fühle mich dem eigenen Tod näher als einem Überleben ohne meinen Mann. Ein Teil von mir ist fort, wie amputiert ist meine Seele.
„Beim Tod eines geliebten Menschen erfahren wir, was Tod ist“, schreibt Verena Kast. „Dieses Todeserlebnis widerfährt uns, lässt uns irre werden an uns und allem, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben … Stirbt ein geliebter Mensch, so nehmen wir in seinem Sterben nicht nur … unser eigenes Sterben vorweg; wir sterben in gewisser Weise mit ihm.“2
„Stirbt ein geliebter Mensch, so nehmen wir in seinem Sterben nicht nur … unser eigenes Sterben vorweg; wir sterben in gewisser Weise mit ihm.“
Ich hatte auch das Gefühl, als würde ein Teil von mir mit sterben, als würde ich ein Stück von mir selbst mit zu Grabe tragen. Mit einem Mal rückt auch der eigene Tod ins Bewusstsein, was bisher so noch nicht der Fall war. Eigentlich ist mein Mann mit seinen fünfzig Jahren einfach noch nicht dran, und das löst auch Betroffenheit aus bei allen Freunden, die im selben Alter sind. Doch die Zeit steht nicht in unseren Händen; das werde ich erst noch buchstabieren lernen.
Ich bin fast erleichtert, dass meine „erste“ Trauer in diese Jahreszeit fällt. Kann es jemals wieder Frühling werden ohne meinen Mann? Werde ich jemals wieder fröhlich sein? Jeder Anflug froher Gedanken irritiert mich zutiefst. Undenkbar, dass ich wieder lachen könnte. Nein, das geht nicht.
Auch in mir ist der Winter eingezogen, ich fühle mich abgeschnitten vom Leben, habe keine Energie und Lebenskraft, erfroren sind meine Gefühle, und das beunruhigt mich. Als wären auch sie erfroren. Manchmal spüre ich nicht einmal mehr einen Schmerz, keine Träne fließt. Ist das normal, frage ich mich. Mir fällt eine Begebenheit aus der Kindheit unseres Sohnes Markus ein. Er war ein überaus aktives, mutiges Kind. Kein Klettergerüst war ihm zu hoch, er war ein kleiner Draufgänger. Eines Tages gehe ich mit ihm auf einen Spielplatz und er rutscht mit großem Vergnügen eine Rutschbahn hinunter. Bei der Landung macht er plötzlich einen Satz auf den Po, und dabei beißt er sich auf die Zunge. Der Biss ist so heftig, dass Blut aus seinem Mund spritzt und eine offene Wunde auf der Zunge deutlich auseinanderklafft. Alle Farbe weicht aus seinem Gesicht. Aber er gibt keinen Ton von sich. Er schreit nicht, er weint nicht. Er ist wie erstarrt, bis in die Notaufnahme der Ambulanz.
Der Arzt sagt: „Ihr Sohn hat ein großes Loch in der Zunge. Das müssen wir zunähen. Er steht unter Schock. Wir werden es ohne Narkose machen, denn er spürt im Moment keinen Schmerz.“ Und umgehend näht er mit Nadel und Faden das Loch wieder zu. Markus merkt nichts. Der Schock hat seinen Schmerz betäubt.
So geht es jetzt mir. Der erlittene Verlust hat eine tiefe, ernst zu nehmende Wunde in mir geschlagen. Mein Körper reagiert mit Schock. Ich erinnere mich an Trauernde, die bei der Beerdigung wie erstarrt am offenen Grab standen und nichts fühlen konnten. Das muss auch auf andere erst einmal befremdlich wirken. Jetzt weiß ich: Schock wirkt als Betäubung für die Seele. Noch kann sie die volle Realität des Todes nicht erfassen. Der Schock ist eine völlig gesunde Reaktion auf den ersten schlimmen Schmerz. Nur so können wir diese Zeit überhaupt überleben. Es braucht Zeit zu begreifen und es braucht Zeit, damit sich Gefühle einstellen können.
Schock wirkt als Betäubung für die Seele.
Mit jedem Weg zum Friedhof sickert es mehr in mein Bewusstsein: Unsere gemeinsame Zeit auf dieser Erde ist endgültig vorbei.
Im Haus meiner Trauer bin ich nun angekommen. Hier werde ich mich nun einrichten. Schock und das Gefühl der Unwirklichkeit sind meine Begleiter. Mir scheint, dass meine erste Aufgabe nun darin besteht, die Realität des Todes anzuerkennen.
Jost:
Die E-Mail trifft mich wie ein Schlag: „Dr. med. Franz Keller ist tot“, schreibt ein Freund. „Er wählte gestern Morgen den Freitod. Wir verlieren einen prima Kollegen mit hohem medizinischen Können, höchster Kreativität und ein Leben mit tiefen dunklen Tälern und sonnigen Höhen.“ Ich kann es nicht glauben. Es schnürt mir den Hals zu. Franz war ein Kollege, den ich immer bewundert habe. Ich habe viel von ihm gelernt. Er war einige Jahre älter als ich und schon in eigener Praxis tätig, als ich mit meiner Praxis begann. Mir gehen Bilder und Erinnerungen durch den Kopf. Franz war begeisterter Hobbyflieger. Er nahm mich einmal mit in seinem Motorsegler. Es war herrlich, die Welt unter sich zu lassen und über allem zu schweben. Franz strahlte immer Ruhe aus. Ich fühlte mich sicher bei ihm. Vor einigen Wochen war er noch bei uns zu Hause gewesen und hatte bei einem Glas Wein von einem schrecklichen Unfall auf dem Segelschiff seines Freundes erzählt, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Aber er war unversehrt geblieben und konnte seinen schwer verletzten Freund in eine Spezialklinik bringen. Dankbarkeit sprach aus seinen Worten. Ich fand es bemerkenswert, wie besonnen er in dieser Krisensituation reagiert hatte. Und jetzt das. „Dr. med. Franz Keller ist tot.“ Ich muss es zwei-, dreimal lesen. Franz war doch immer lebenslustig und für manches Abenteuer zu haben. Ein Kollege, den ich jederzeit anrufen konnte und der mir oft einen guten medizinischen Rat gegeben hat. Hin und wieder hatten wir zusammen Musik gemacht, er spielte Gitarre. Die war dreißig Jahre alt und er hatte sie immer dabei. Beim Gitarrenspiel würde sich seine Seele erholen, hatte er mir einmal gesagt. Es rührte mich, wie Franz von seiner Gitarre sprach, fast wie von einer Geliebten. Er hatte sie bei jenem Segelunfall verloren, sie ist im Meer versunken.
Viele Hinterbliebene erleben die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod als Schock, als etwas Ungeheuerliches, das sie völlig unvorbereitet überfällt. So ging es mir auch mit dem Tod meines Kollegen. Wir alle, seine Kollegen und Freunde, standen fassungslos davor. Nicht umsonst steht häufig über Traueranzeigen: „Plötzlich und unerwartet …“ Das ist durchaus nicht nur bei unvorhergesehenen Schicksalsschlägen zu lesen, sondern ich finde es auch in den Todesanzeigen vieler meiner chronisch kranken Patienten, wo mit dem Tod doch irgendwie zu rechnen war. Wenn es eines Tages tatsächlich so weit ist, dann ist plötzlich eine tiefe existenzielle Betroffenheit da. Es ist einfach ganz anders als alles, was man bisher erlebt hat.
Eine ganze philosophische Strömung ist aus dieser Erfahrung entstanden, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, um den Philosophen Heidegger herum.33 Das menschliche Leben ist ein „Sein zum Tode“, erkannte Heidegger.
Manchmal gibt es so etwas wie Vorahnungen. „Seit meiner Kindheit habe ich es immer irgendwie gewusst, dass mein Vater irgendwann freiwillig aus dem Leben gehen wird“, sagte die erwachsene Tochter meines Kollegen bei seiner Trauerfeier. Aber wenn der Moment dann da ist, steht man trotzdem unter Schock.
Nicht selten kommen Menschen in dieser Phase zu mir als Arzt. Früher gingen sie vielleicht eher zum Seelsorger. Stellt sich doch die Frage: Wie kann das Leben weitergehen? In der Regel geht es eben nicht einfach weiter und mitunter muss der Arzt den Betroffenen erst einmal arbeitsunfähig schreiben.
Annabell sitzt vor mir, abgrundtief traurig. Stockend schildert sie, wie ihr Leben vor drei Tagen zusammenstürzte, als die Polizei ihr die Nachricht vom Unfalltod ihres Sohnes überbrachte. Arbeiten geht gar nicht mehr. Verzweiflung schlägt mir entgegen. Nachts bekomme sie kein Auge zu. Einfache Tätigkeiten bauten sich zu einem riesigen Berg auf. Sie kann sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne den geliebten Sohn weitergehen kann.
Ich höre ihr zu. Frage nach. Biete meine Hilfe in ganz praktischen Dingen an, wie Krankschreibung, ein Medikament zum Schlafen, leichte Beruhigungsmittel für die Zeit um die Beerdigung herum.
In dieser akuten Phase der Trauer ist es wichtig, praktische Hilfen anzubieten, mehr ist oft nicht möglich. Da haben wir Ärzte es vielleicht einfacher als die Seelsorger. Wir können schon mit einer Beruhigungsspritze oder Beruhigungstropfen etwas sehr Handgreifliches, Sichtbares anbieten, was meist auch gerne angenommen wird.
In dieser akuten Phase der Trauer ist es wichtig, praktische Hilfen anzubieten, mehr ist oft nicht möglich.