Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
methodisch über den Schlüsseln reihten, und ich war erstaunt, welche Sauberkeit in dem Raum herrschte, der in anderen Hotels gewöhnlich sehr schlecht gehalten zu sein pflegt, hier aber wie ein Genrebild anmutete; das blaue Bett, die Gerätschaften, die Möbel zeugten von einem konventionellen Schönheitssinn. Die Wirtin, eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, aus deren Zügen Kummer sprach und deren Blick wie von Tränen getrübt war, erhob sich und kam auf mich zu. Ich nannte ihr bescheiden den Preis, den ich für die Miete zahlen konnte; sie schien darüber nicht verwundert, suchte aus all den Schlüsseln einen heraus, führte mich zu den Dachstuben und zeigte mir eine Kammer mit einem Ausblick auf die Dächer und die Höfe der Nachbarhäuser, aus deren Fenstern lange, mit Wäsche behangene Stangen ragten. Nichts konnte schrecklicher sein als diese Mansarde mit ihren schmutzigen gelben Wänden, die nach Elend roch und nur auf den armen Gelehrten zu warten schien. Das Dach senkte sich auf beiden Seiten gleichmäßig darüber, und die auseinanderklaffenden Ziegel ließen den Himmel hindurchsehen. Es war Platz für ein Bett, einen Tisch, einige Stühle, und unter dem spitzen Winkel des Daches konnte ich mein Klavier unterbringen. Da die arme Frau nicht reich genug war, diesen Käfig, den die Bleikammern von Venedig7 wohl kaum übertrafen, einzurichten, hatte sie ihn bisher nie vermieten können. Ich hatte vom Verkauf der Möbel die Gegenstände ausgeschlossen, die zu meinem persönlichen Bedarf gehörten, und so wurde ich mit meiner Wirtin bald handelseinig und zog am Tag darauf bei ihr ein. Ich lebte in diesem Mansardengrab nahezu drei Jahre, arbeitete unablässig Tag und Nacht und mit so viel Freude, daß das Studium mir als die schönste Aufgabe, die glücklichste Lösung des menschlichen Lebens erschien. Die Ruhe und das Schweigen, die der Gelehrte braucht, haben etwas unaussprechlich Sanftes und Berauschendes wie die Liebe. Die angespannte Arbeit der Gedanken, die Suche nach Ideen, die ruhigen Betrachtungen der Wissenschaft spenden uns unsägliche Wonnen, die man so wenig schildern kann wie alle übrigen Phänomene des Geistes, da sie für unsere äußeren Sinne nicht wahrnehmbar sind. Wir müssen daher die Geheimnisse des Geistes auch immer durch materielle Vergleiche erklären. Das Vergnügen, allein und von einer sanften Brise umschmeichelt in einem klaren See inmitten von Felsen, Wäldern und Blumen zu schwimmen, würde den Unwissenden nur ein schwaches Bild des Glücks geben, das ich empfand, wenn sich meine Seele gleichsam in einem überirdischen Lichte badete, wenn ich den schrecklichen und verworrenen Stimmen der Inspiration lauschte, wenn Bilder aus einer unbekannten Quelle in mein zuckendes Hirn sprangen. Zu beobachten, wie auf dem Feld der Abstraktionen eine Idee sprießt, gleich der Morgensonne emporsteigt, oder besser, die heranwächst wie ein Kind, das langsam zur Reife gelangt und zum Mann wird, ist eine Freude, die alle irdischen Freuden übersteigt, oder vielmehr, ist göttliche Lust. Das Studium verleiht allem, was uns umgibt, einen magischen Schein. Der wackelige Tisch, auf dem ich schrieb, das braune Schafleder, mit dem er bedeckt war, mein Klavier, mein Bett, mein Lehnstuhl, die Schnörkeleien auf meiner Tapete, meine Gerätschaften, all diese Dinge gewannen ein eigenes Leben und wurden meine ergebenen Freunde, die verschwiegenen Gefährten meiner Zukunft. Wie oft habe ich ihnen nicht, wenn ich sie ansah, meine Seele enthüllt! Wie oft, wenn ich meine Augen über ein windschiefes Gesims gleiten ließ, sind mir neue Gedankenfolgen gekommen, ein schlagender Beweis meines Systems oder Worte, die mir treffend schienen, kaum auszudrückende Gedanken wiederzugeben.
Wie ich die Dinge, die mich umgaben, betrachtete, entdeckte ich, daß jedes eine Physiologie, einen besonderen Charakter hatte. Oft sprachen sie zu mir; wenn die untergehende Sonne über die Dächer hinweg einen flüchtigen Schein in mein schmales Fenster warf, färbten sie sich, verblaßten, leuchteten auf, wurden bald düster, bald heiter und überraschten mich stets durch neue Wandlungen. Diese winzigen Ereignisse eines einsamen Lebens, die der rastlos geschäftigen Welt entgehen, sind der Trost der Gefangenen. War ich denn nicht gefangen von der Idee, in ein System gesperrt, obgleich die Aussicht auf eine glorreiche Zukunft mich aufrechterhielt? Bei jeder überwundenen Schwierigkeit küßte ich die weichen Hände der reichen, eleganten Frau mit den schönen Augen, die mir eines Tages die Haare streicheln und gerührt zu mir sagen würde: ›Du hast viel gelitten, mein armer Engel!‹ Ich hatte zwei große Werke in Angriff genommen. Eine Komödie sollte mir in wenigen Tagen einen Namen, ein Vermögen und den Eintritt in jene Welt verschaffen, wo ich die Hoheitsrechte des Genies auszuüben gedachte. Ihr alle habt in diesem Meisterwerk den ersten Fehlgriff eines jungen Mannes, der gerade aus dem Collège kommt, gesehen, nichts als eine Kinderei. Eure Spötteleien haben hochfliegenden Illusionen die Flügel gestutzt, und seither ruhen sie. Du, lieber Émile, warst der einzige, der Linderung in die tiefe Wunde träufelte, die die anderen in mein Herz schlugen. Du allein hast meine ›Theorie des Willens‹8 bewundert, jene langwährende Arbeit, um derentwillen ich die orientalischen Sprachen, die Anatomie, die Physiologie studiert und der ich den größten Teil meiner Zeit geopfert habe. Dieses Werk wird, wenn ich mich nicht täusche, die Arbeiten von Mesmer,9 Lavater,10 Gall11 und Bichat ergänzen und der Wissenschaft einen neuen Weg weisen. Hier endet mein schönes Leben, dieses mit jedem Tag erneuerte Opfer, diese der Welt unbekannte Seidenwurmarbeit, deren einziger Lohn vielleicht in der Arbeit selbst liegt. Vom Alter der Vernunft an bis zu dem Tag, da ich meine Theorie beendete, habe ich unablässig beobachtet, gelernt, geschrieben, gelesen; mein Leben war wie ein langes Strafpensum. Obwohl ich verweichlicht war und zu orientalischer Faulheit neigte, obwohl ich in meine Träume verliebt und sinnlicher Natur war, habe ich doch immer gearbeitet und mir die Freuden des Pariser Lebens versagt. Ich schätzte Tafelgenüsse und lebte aufs kärglichste; ich liebte das Wandern und das Reisen zur See, sehnte mich, fremde Länder kennenzulernen, ja, ich hätte noch Vergnügen daran gefunden, gleich einem Kinde, Kieselsteine auf dem Wasser hüpfen zu lassen, und bin doch beständig mit der Feder in der Hand auf einem Fleck sitzengeblieben. Trotz meiner Redseligkeit lauschte ich stillschweigend den Vorlesungen der Professoren in der Bibliothek und im Museum; ich schlief auf meinem einsamen Lager wie ein Benediktinermönch, und doch war eine Frau mein einziger Wunsch, ein ständig gehegtes und nie erfülltes Verlangen. Kurz, mein Leben war ein grausamer Widerspruch, eine fortwährende Lüge. Aber so ist der Mensch! Manchmal brachen meine natürlichen Triebe hervor wie eine Feuersbrunst, die lange im verborgenen geschwelt hat. Wie in hitzigen Fieberträumen sah ich mich, der ich doch all die glühend ersehnten Frauen entbehrte und in äußerster Armut in einer elenden Künstlermansarde hauste, von hinreißenden Frauen umgeben. Ich lehnte