Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

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konn­te die bei­den für zwei Grei­se hal­ten, die in glei­chem Maße zer­rüt­tet wa­ren: der eine durch die Zeit, der an­de­re durch den Geist; dem einen stand sein Al­ter auf sei­ne wei­ßen Haa­re ge­schrie­ben, der jün­ge­re hat­te kein Al­ter mehr.

      »Mon­sieur, ich habe nicht ge­schla­fen!« sag­te Ra­pha­el zu sei­nem Geg­ner.

      Die­se ei­si­gen Wor­te und der fürch­ter­li­che Blick, der sie be­glei­te­te, lie­ßen den wirk­li­chen Her­aus­for­de­rer er­zit­tern; sein Un­recht wur­de ihm be­wußt, und er schäm­te sich ins­ge­heim sei­nes Be­neh­mens. Es lag in der Hal­tung, dem Klang der Stim­me und den Be­we­gun­gen Ra­phaels et­was Selt­sa­mes. Der Mar­quis schwieg eine Wei­le, und je­der folg­te sei­nem Schwei­gen. Un­ru­he und Span­nung hat­ten ih­ren Hö­he­punkt er­reicht.

      »Es ist Zeit«, fuhr Ra­pha­el dann fort, »mir eine leich­te Sa­tis­fak­ti­on zu ge­ben; ge­wäh­ren Sie sie mir; sonst wer­den Sie ster­ben. Sie zäh­len in die­sem Au­gen­blick noch auf Ihre Ge­schick­lich­keit und schre­cken nicht vor ei­nem Kampf zu­rück, der Ih­nen je­den Vor­teil zu bie­ten scheint. Nun, Mon­sieur, ich bin groß­zü­gig, ich war­ne Sie vor mei­ner Über­le­gen­heit. Ich be­sit­ze eine schreck­li­che Macht. Um Ihre Ge­schick­lich­keit zu­nich­te zu ma­chen, Ihre Bli­cke zu ver­schlei­ern, Ihre Hand zum Zit­tern zu brin­gen und Ihr Herz ver­zagt zu ma­chen, ja selbst um Sie zu tö­ten, brau­che ich es nur zu wün­schen. Ich will nicht ge­nö­tigt sein, mei­ne Macht zu ge­brau­chen, es kos­tet mich zu­viel, sie aus­zuü­ben. Sie wer­den nicht der ein­zi­ge sein, der ster­ben muß. Wenn Sie es also ab­leh­nen, sich bei mir zu ent­schul­di­gen, wird Ihre Ku­gel trotz all Ih­rer Übung im Mor­den in die­sen Was­ser­fall flie­gen, mei­ne in­des­sen, ohne daß ich zie­le, mit­ten in Ihr Herz.«

      Bei die­sen Wor­ten wur­de Ra­pha­el von Stim­men­ge­wirr un­ter­bro­chen. Der Mar­quis hat­te, wäh­rend er die­se Wor­te sprach, auf sei­nen Geg­ner be­stän­dig die un­er­träg­li­che Klar­heit sei­nes star­ren Blickes ge­rich­tet, er stand auf­ge­r­eckt mit un­durch­dring­li­chem Ge­sicht und sah aus wie ein zu al­lem ent­schlos­se­ner Wahn­sin­ni­ger.

      »Bring ihn zum Schwei­gen«, hat­te der jun­ge Mann zu ei­nem sei­ner Se­kun­dan­ten ge­sagt, »sei­ne Stim­me geht mir durch Mark und Bein!«

      »Hö­ren Sie auf, Mon­sieur. Ihre Re­den sind un­nütz!« rie­fen die Zeu­gen und der Wund­arzt Ra­pha­el zu.

      »Mes­sieurs, ich er­fül­le eine Pf­licht. Hat der jun­ge Mann noch Ver­fü­gun­gen zu tref­fen?«

      »Ge­nug! Ge­nug!«

      Der Mar­quis blieb un­be­weg­lich ste­hen, ohne sei­nen Geg­ner einen Au­gen­blick aus den Au­gen zu las­sen, der, von ei­ner fast ma­gi­schen Ge­walt be­zwun­gen, da­stand wie ein Vo­gel vor ei­ner Schlan­ge: ge­zwun­gen, die­sen mör­de­ri­schen Blick zu er­tra­gen, er floh ihn und wand­te sich ihm doch im­mer wie­der zu.

      »Gib mir Was­ser, ich habe Durst«, sag­te er zu sei­nem Zeu­gen.

      »Hast du Angst?«

      »Ja«, ant­wor­te­te er; »das Auge die­ses Men­schen ist bren­nend und macht mich ver­rückt.«

      »Willst du dich bei ihm ent­schul­di­gen?«

      »Es ist zu spät.«

      Die bei­den Geg­ner wur­den ein­an­der auf 15 Schritt Ent­fer­nung ge­gen­über­ge­stellt. Sie hat­ten je­der ein Paar Pis­to­len bei sich, und nach dem ver­ein­bar­ten Ablauf die­ser Ze­re­mo­nie soll­ten sie, nach­dem die Zeu­gen das Zei­chen ge­ge­ben hat­ten, nach Be­lie­ben je­der zwei Schüs­se ab­feu­ern.

      »Was machst du, Charles?« rief der jun­ge Mann, der Ra­phaels Geg­ner als Se­kun­dant diente, »du schiebst die Ku­gel ein und hast noch kein Pul­ver drin!«

      »Es ist mein Tod!« gab er zu­rück; »ihr habt mich so ge­stellt, daß mich die Son­ne blen­det.«

      »Sie ha­ben sie hin­ter sich«, sag­te Va­len­tin mit erns­ter, fei­er­li­cher Stim­me. Er lud lang­sam sei­ne Pis­to­le und ließ sich we­der durch das Zei­chen, das schon ge­ge­ben war, noch durch die Sorg­falt, mit der sein Geg­ner auf ihn ziel­te, be­ir­ren.

      Die­se über­na­tür­li­che Si­cher­heit hat­te et­was Furch­ter­re­gen­des, das selbst die bei­den Po­stil­lio­ne, die aus grau­sa­mer Neu­gier her­bei­ge­kom­men wa­ren, ent­setz­te. Ob er nun mit sei­ner Macht spie­len oder sie er­pro­ben woll­te, Ra­pha­el sprach mit Jo­na­thas und sah ihn in dem Au­gen­blick an, wo sein Geg­ner feu­er­te. Die Ku­gel zer­riß einen Wei­den­zweig und klatsch­te ins Was­ser. Ra­pha­el schoß aufs Ge­ra­te­wohl los, traf sei­nen Geg­ner ins Herz und zog schnell, ohne den zu­sam­men­sin­ken­den jun­gen Mann wei­ter zu be­ach­ten, das Cha­grin­le­der her­vor, um zu se­hen, was ihn ein Men­schen­le­ben kos­te­te. Der Ta­lis­man war nur noch so groß wie ein klei­nes Ei­chen­blatt.

      »Nun, was habt ihr da zu glot­zen, Po­stil­lio­ne? Auf den Wa­gen! Vor­wärts!« rief der Mar­quis.

      Er lang­te noch am Abend in Frank­reich an, reis­te so­fort in die Au­ver­gne wei­ter und be­gab sich in die Bä­der des Mont-Dore. Auf die­ser Rei­se stieg aus sei­nem Her­zen eine je­ner plötz­li­chen Ein­ge­bun­gen, die, wie ein Son­nen­strahl durch di­cke Wol­ken auf ein dunkles Tal, un­er­war­tet in un­se­re See­le fal­len. Trau­ri­ges Licht, un­er­bitt­li­che Er­kennt­nis! Sie er­hellt, was ge­sche­hen ist, ent­hüllt uns un­se­re Feh­ler, und gna­den­los se­hen wir uns selbst. Er be­griff mit ei­nem Mal, daß der Be­sitz ei­ner Macht, moch­te sie noch so ge­wal­tig sein, nicht die Weis­heit ver­lieh, sich ih­rer zu be­die­nen. Das Zep­ter ist ein Spiel­zeug für ein Kind, eine Axt für Ri­che­lieu und für Na­po­le­on ein He­bel, um die Welt aus den An­geln zu he­ben. Die Macht läßt uns, wie wir sind, nur die Gro­ßen macht sie noch grö­ßer. Ra­pha­el hät­te al­les tun kön­nen und hat­te nichts ge­tan.

      In den Bä­dern des Mont-Dore traf er wie­der die Ge­sell­schaft, die sich stets ei­lig vor ihm zu­rück­zog, wie die Tie­re einen tot da­lie­gen­den Art­ge­nos­sen flie­hen, so­bald sie ihn von wei­tem ge­wit­tert ha­ben. Die­ser Haß war ge­gen­sei­tig. Sein letz­tes Aben­teu­er hat­te ihn mit ei­ner tie­fen Ab­scheu vor der Ge­sell­schaft er­füllt. So war es denn sei­ne ers­te Sor­ge, eine von den Men­schen weit ab­ge­le­ge­ne Blei­be in der Nähe der Bä­der zu su­chen. Er fühl­te in­stink­tiv das Be­dürf­nis, sich der Na­tur zu nä­hern und sich den wah­ren Emp­fin­dun­gen und ei­nem gleich­sam ve­ge­ta­ti­ven Le­ben zu über­las­sen, wie wir es auf dem Land so gern tun. Am Tage nach sei­ner An­kunft er­stieg er, nicht ohne Mühe, den Pic de San­cy und such­te die hoch­ge­le­ge­nen Tä­ler auf, die luf­ti­gen Hö­hen, die un­be­kann­ten Seen, die länd­li­chen Hüt­ten auf die­sem Ge­birgs­zug, des­sen her­be und wil­de Schön­hei­ten die Pin­sel un­se­rer Künst­ler zu lo­cken be­gin­nen. Manch­mal fin­den sich da wun­der­ba­re Land­schaf­ten vol­ler An­mut und Fri­sche, die sich ma­le­risch von dem düs­te­ren An­blick der öden Ber­ge ab­he­ben. Etwa eine hal­be Mei­le von dem Dorf ent­fernt ent­deck­te Ra­pha­el eine Stel­le, wo die Na­tur, schel­misch und mut­wil­lig wie ein Kind, of­fen­bar Ver­gnü­gen dar­an ge­fun­den hat­te, Schät­ze zu ver­ber­gen; als er die­se zau­ber­haft schö­ne, un­be­rühr­te Ein­sam­keit er­blick­te, be­schloß er, hier zu le­ben. Hier muß­te das Le­ben ru­hig, ur­sprüng­lich und ge­deih­lich sein wie das ei­ner Pflan­ze.

      Man stel­le sich einen


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