Heimat bist du großer Namen. Dietmar Grieser
Alfons Maria Stickler, der Dirigent Walter Weller, der Jazzmusiker Joe Zawinul, der Großreeder Helmut Sohmen, der Modeschöpfer Helmut Lang, der Entwicklungshelfer Karlheinz Böhm – sie alle ergäben ein eigenes Buch.
Und ein eigenes Buch ergäbe erst recht jene große Zahl von Auslandsösterreichern, die ihre Heimat unfreiwillig verlassen haben. Gemeint ist der verheerende Aderlaß, den Österreich erlitt, als in der NS-Ära ein Großteil seiner intellektuellen und künstlerischen Elite aus dem Land gejagt wurde. Stellvertretend für diese Personengruppe seien der Schöpfer der österreichischen Verfassung, der Rechtsgelehrte Hans Kelsen, der Religionsphilosoph Martin Buber, der Wirtschaftstheoretiker Josef Alois Schumpeter, die Physiker Erwin Schrödinger, Lise Meitner und Walter Kohn, die Komponisten Ernst Krenek, Egon Wellesz und Hermann Leopoldi, der Dirigent Erich Leinsdorf, der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim, der Marktforscher Ernest Dichter, die Schriftstellerin Gina Kaus und der Regisseur Berthold Viertel genannt. Ihrem Schicksal und dem ihrer zahlreichen Leidensgenossen gebührt selbstverständlich eine eigene Untersuchung (die es zum Teil bereits gibt).
Wenden wir uns also zunächst jener Kategorie von Auslandsösterreichern zu, die im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte ihre Heimat aus freien Stücken verlassen haben, um draußen in der Welt ihr Glück zu suchen – sei es, weil es ihnen im kleinen Österreich zu eng wurde, weil sie in der Fremde die besseren Chancen für ihr Fortkommen sahen oder einfach weil das Ausland nach ihnen rief.
Zwischen allen Stühlen
Slatin Pascha
Welcher siebzehnjährige Österreicher, der noch nie im Ausland gewesen ist, nur über das bißchen Schulenglisch verfügt und von seinen Eltern nicht einmal das Fahrgeld vorgestreckt bekommt, käme heute auf die Idee, von einem Tag auf den anderen seine Ausbildung an der Handelsakademie abzubrechen, sich nach Ägypten durchzuschlagen und eine Stelle als Buchhändlergehilfe in Kairo anzutreten?
Rudolf Slatin ist eine Abenteurernatur: Als er erkennt, daß er wohl doch nicht für den Kaufmannsberuf taugt, schließt er sich einem in Kairo ansässigen deutschen Konsularbeamten an und durchstreift mit ihm über ein Jahr lang die riesigen Wüstengebiete des unter englischer Hoheitsverwaltung stehenden Nachbarlandes Sudan. Forschungsreisender – ja, das wäre ganz nach seinem Geschmack! Da erreicht ihn aus der Heimat der Einberufungsbefehl, und im September 1876 tritt der mittlerweile Neunzehnjährige beim 12. Feldjägerbataillon der österreichisch-ungarischen Armee seinen Wehrdienst als einfacher Rekrut an.
Als er, 15 Monate darauf zum Reserveleutnant befördert, im Sommer 1878 mit seinem Regiment an der bosnischen Grenze stationiert ist, erreicht ihn Post aus Nordafrika: Sollte die seinerzeit geknüpfte Verbindung zu dem Arzt Dr. Eduard Schnitzer, den der Khedive von Khartum in sein Land geholt und dem Generalgouverneur des Sudan, dem Engländer Charles George Gordon, unterstellt hat, tatsächlich Früchte tragen? Schnitzer teilt seinem Schützling mit, er habe ihn, überzeugt von seinen besonderen Fähigkeiten, dem allmächtigen Gordon empfohlen, und in dessen Stab sei der Posten eines Finanzinspekteurs frei, dem es obliege, das chaotische Verwaltungssystem des Sudan von Steuerwillkür und Korruption zu befreien.
Rudolf Slatin, der als Sohn eines kleinen Wiener Seidenfärbers in der Heimat wenig Zukunft für sich sieht, erkennt die einzigartige Chance, die ihm da geboten wird, und besteigt in Triest das Schiff nach Kairo. Der Abschied von Österreich fällt ihm nicht schwer: Die Eltern sind getaufte Juden, die schon ihrer vielen Kinder wegen nur ein kümmerliches Dasein fristen, auch ist vor einigen Jahren der Vater gestorben.
Rudolf Slatins neues Leben muß ihm selber wie ein Traum vorkommen: Dem Einundzwanzigjährigen, der sich schon zuvor, auf die Frage nach seinem Beruf, gern als »Erforscher der Wildnis« ausgegeben hat, wird an seiner neuen Wirkungsstätte allseits größte Hochachtung entgegengebracht, als dem »Neffen von Gordon Pascha« (wie er auf Grund einer gewissen Ähnlichkeit mit seinem obersten Vorgesetzten genannt wird) öffnen sich ihm alle Türen, bald schon befehligt er, um seinen Auftrag durchführen zu können, eine eigene 300 Mann starke Truppe, und keine drei Jahre später ist er Gouverneur der Provinz Darfur.
Die eigentliche Bewährungsprobe hat Rudolf Slatin allerdings noch vor sich: Im Sudan bricht ein Aufstand fanatischer Moslem-Rebellen rund um den selbsternannten »Wüsten-Messias« Mahdi alias Mohammed Achmed aus. General Gordon, der mit den Regierungstruppen dem blutigen Religionskrieg ein Ende machen soll, wird von den Aufständischen ermordet, sein Adlatus soll das Kommando übernehmen. Um in dieser gefährlichen Situation seine Mitstreiter auf ihn einzuschwören, ringt sich der junge Österreicher zu einem schweren Entschluß durch: Er tritt zum Islam über. Das Verhängnis ist gleichwohl nicht aufzuhalten: Am 24. Dezember 1883 – in der fernen Heimat werden gerade die Christbäume angezündet – fällt der sechsundzwanzigjährige Rudolf Slatin in die Hände seines Gegners und wird in der inzwischen von den Mahdi-Truppen eroberten Hauptstadt Khartum in Haft genommen. Nicht weniger als elf Jahre wird sie dauern …
Zwar darf er nach einiger Zeit das neun Kilo schwere Fußeisen, mit dem er an seine Kerkerzelle gefesselt ist, gegen Hausarrest tauschen, sogar Dienerschaft und Konkubinen werden ihm gnädig gewährt, und wenn ihn Post aus der Heimat erreicht (die allerdings bis zu 20 Monate unterwegs ist), erfährt er, was draußen in der Welt vorgeht: der Tod seiner Mutter, das Drama von Mayerling.
Erst im März 1895 gelingt es, den prominenten Gefangenen aus den Fängen der Derwische zu befreien: Der britische Geheimdienst hat einen abenteuerlichen Fluchtplan ausgearbeitet. 1000 Pfund Belohnung winken jenem arabischen Kaufmann, dem mit Kamel und Führer die 24tägige Gewalttour durch die Wüste, über die Gilif-Berge und über den Nil glückt. In der Offiziersmesse der anglo-ägyptischen Garnison von Assuan wird am 16. März 1895 die wiedererlangte Freiheit gefeiert – mit der von einer schwarzen Militärkapelle intonierten österreichischen Kaiserhymne. Die Weltpresse hat einen neuen Helden, im Palast des Khediven zu Kairo wird Slatin Pascha – so sein nunmehriger Ehrentitel – zum Oberst befördert, der Leipziger Brockhaus-Verlag landet mit »Feuer und Schwert im Sudan« den Bestseller der Saison. Ein zweiwöchiger Besuch in der alten Heimat Österreich gipfelt in einer Privataudienz beim Kaiser, die Weiterreise nach England begründet Slatins Freundschaft mit Queen Victoria, der Sohn eines kleinen Handwerkers aus der Wiener Vorstadt wird Generalinspekteur im Sudan. Und bleibt es bis 1914. Nun aber, wo Österreich-Ungarn und Großbritannien Kriegsgegner sind, will auch Slatin, den Kaiser Franz Joseph in den Ritterstand erhoben hat, seinem Vaterland dienen: Mit der neuen Würde eines »Geheimrats« ausgestattet, tritt er an die Spitze der Kriegsgefangenenhilfe des Österreichischen Roten Kreuzes. Weniger Erfolg ist ihm als Friedensstifter beschieden: Die von ihm eingefädelten Geheimverhandlungen zwischen Wien und London scheitern am Widerstand von Paris und Rom.
Bei Kriegsende in Bern, kann er von seinem Krankenzimmer aus (der Einundsechzigjährige liegt mit Herzschwäche und schwerer Bronchitis im Spital) Dr. Karl Renner, den Kanzler der provisorischen Regierung, in Fragen der Republikgründung beraten; auch gewinnt er die Alliierten für Lebensmittellieferungen ans hungerleidende Österreich. Und als im Jahr darauf die Friedensgespräche von St.Germain beginnen, gehört Slatin der österreichischen Delegation an. Renners Plan, ihn als neuen Missionschef nach London zu entsenden, scheitert allerdings am Einspruch der Briten: Die ehemalige Wahlheimat läßt den »Verräter« nicht einmal als Privatmann einreisen.
Mit dem Krebstod seiner Frau – Slatin hat am 21. Juli 1914 in der Wiener Votivkirche die 16 Jahre jüngere Baronin Alice von Ramberg geheiratet – bleibt dem müde und alt Gewordenen seine 1916 geborene Tochter Anna Marie fast die einzige Freude: Gestützt auf eine Pension der sudanesischen Regierung, die Tantiemen aus seinem Memoirenwerk und eine ansehnliche US-Erbschaft, bezieht er seinen Alterssitz: Villa Mathilde im vornehmen Meraner Ortsteil Obermais.
Drei Höhepunkte sind Slatin Pascha immerhin noch vergönnt: eine allerletzte Besuchsreise in den geliebten Sudan, eine Einladung zum Dinner bei König George V. im Buckingham-Palast sowie die Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Wien. Seine Beisetzung auf dem Friedhof von Ober-St. Veit am 6. Oktober 1932 – die Krebsoperation im Cottage-Sanatorium hat mit dem Tod des Fünfundsiebzigjährigen geendet – gleicht einemStaatsbegräbnis.
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